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Kolonialwissenschaften und Kolonialausbildung bis 1907

Forschungsreisen und Kolonialinteressen

Der deutsche Anteil am europäischen Kolonialisationsprozess spielte bis in das 19. Jahrhundert hinein nur eine untergeordnete Rolle.(1) Aber die Erforschung des afrikanischen Kontinents ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bildet für die vorliegende Arbeit einen geeigneten Ausgangspunkt. Gegenüber einer Mehrheit vor allem englischer und französischer Forscher fällt für die Jahrzehnte vor der kolonialen Aufteilung Afrikas in den 1880er Jahren eine zunehmende Zahl von deutschen Afrikareisenden ins Auge. Für das gesamte Jahrhundert hat Cornelia Essner 109 Namen zusammengetragen und konstatiert, dass gegenüber einer geringen Zahl von nur 15 deutschen Forschungsreisenden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts immerhin 39 Personen für den Zeitraum von 1850 bis 1873 und schließlich sogar 55 Personen für die letzten zweieinhalb Dekaden von 1873 bis 1900 genannt werden können.(2) Als prominentester Vertreter unter den deutschen Afrikareisenden kann der aus Hamburg stammende Altertumskundler Heinrich Barth gelten, der sich durch eine sechsjährige Reise durch mehrere nordafrikanische Länder zwischen 1849 und 1855 international einen Namen als Geograph machte. Bei dieser Reise handelte es sich um eine britische Sudan-Expedition. Sie wurde jedoch nicht in der ursprünglich geplanten Form verwirklicht, da ihr Leiter Richardson schon die erste Phase des Unternehmens nicht überlebte und Barth an seine Stelle trat. Die ihm zugeschriebene Objektivität im Umgang mit seinen afrikanischen Erfahrungen lässt ihn noch heute als Wissenschaftler ohne koloniale Ambitionen und Attitüden erscheinen. Seine Beobachtungen waren äußerst aussagekräftig und bildeten ein solides Fundament für weitere Forschungen. Akademische Weihen blieben ihm allerdings Zeit seines Lebens versagt. Erst 1863 - zwei Jahre vor seinem Tod - erhielt er eine unbezahlte außerordentliche Professur. Barth hatte vergeblich darauf spekuliert, in Berlin Nachfolger von Carl Ritter auf dem damals einzigen Lehrstuhl für Geographie in Deutschland zu werden.(3) Seine Herkunft aus einer anderen Wissenschaftsdisziplin wäre dabei kein Hinderungsgrund gewesen, da nicht wenige Geographen ihre akademische Laufbahn als Historiker begonnen hatten.(4)

Barth war ein Beispiel für zahlreiche deutsche Naturwissenschaftler, die vermehrt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in britische Dienste traten. Für die Erforschung außereuropäischer Länder bot das British Empire schon allein aufgrund der logistischen Möglichkeiten günstige Arbeitsbedingungen, die es in Deutschland nicht gab. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass ein akademischer Werdegang an den angesehenen deutschen Universitäten als Ausweis wissenschaftlicher Qualität galt. Somit war die Attraktivität von Angebot und Nachfrage gleichermaßen für die steigende Zahl von Deutschen in britischen Diensten verantwortlich.(5) Zwar verringerte sich dieese Zahl wieder, als das Deutsche Reich selbst Kolonialmacht wurde, eine Rückwanderungswelle aus Großbritannien blieb jedoch aus und wurde auch nicht durch den Niedergang der politischen Beziehungen beider Staaten zueinander in Gang gesetzt.(6) Einzelne Bereiche der außereuropäischen Forschung, die nicht die beiderseitigen kolonialen Ansprüche tangierten, waren sogar von ausgesprochen konstruktiver Kooperation gekennzeichnet. Das betraf etwa die Südpolforschung, in der Georg von Neumayer eine zentrale Rolle als Vermittler spielte.(7) Er hatte für Großbritannien außerdem Vermessungsarbeiten in der australischen Kolonie Victoria durchgeführt. Zugleich war Neumayer Ehrenmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG). Nach seinem Tod im Mai 1909 ehrte ihn DKG in einem Nachruf in der Deutschen  Kolonialzeitung, in dem auch die unter seiner Leitung vollzogene Kartierung Victorias in Verbindung mit deutscher "Überseetätigkeit"genannt wurde.(8) Damit schlug die DKG von Neumayers Arbeit in Australien gewissermaßen einem kolonialwissenschaftlichen Bruttoinlandsprodukt zu.

Wie ausgeprägt Georg von Neumayers persönliche Affinität zur deutschen Kolonialbewegung tatsächlich war, darf an dieser Stelle offen bleiben. Aber angesichts der grundsätzlichen Vereinbarkeit einer Arbeit im britischen Empire mit der Mitgliedschaft in einer deutschen kolonialen Vereinigung stellt sich die Frage, inwieweit deutsche Wissenschaftler auf kolonialem Gebiet auf die seit 1884 reale deutsche Kolonialherrschaft reagierten? In welchem Verhältnis mussten Kolonialpolitik und Wissenschaft zueinander stehen, damit im Kaiserreich von Kolonialwissenschaften gesprochen wurde? Es steht außer Frage, dass zwischen Wissenschaft und Kolonialismus wirksame Verbindungen vorhanden waren. Aber in welchem Maße beide Bereiche sich gegenseitig bedingten, bildet seit Edward Saids erstmaliger Präsentation seiner Theorie des Orientalismus den Gegenstand kontoverser Betrachtung. Die Pole der Diskussion weisen der Wissenschaft entweder eine Schrittmacherfunktion für den Kolonialismus zu oder sehen die Mehrheit der Forschungsunternehmen als unpolitisch und rein wissenschaftlich motiviert. Die Geographie nimmt in diesem Kontext eine Sonderstellung ein, weil die Beziehungen zwischen ihrem Aufgabenbereich und dem Kolonialismus besonders offensichtlich scheinen.(9)"

(...)

(Auszug aus Kap. 2.1.1: Kolonialwissenschaften und Kolonialausbildung bis 1907, ebd., S. 19-20)

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