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Hybride Kulturen

Zwischen den Extremen einer utopieverhafteten Moderne und eines traditionsfixierten Fundamentalismus haben sich in der postmodernen Kondition der Gegenwart vielgestaltige Formen multikultureller Symbiosen ergeben. In den Bänden dieser Reihe geht es um Beschreibung, Analyse und Theorie dieser neuen Gegebenheiten. Da in der Geschichte multikulturelle Konstellationen immer wieder zu beobachten sind, setzen sich die AutorInnen der Reihe nicht nur mit postmodernen und postkolonialen Phänomenen, sondern auch mit multi-, inter- und transkulturellen Formationen der Vergangenheit auseinander.

Über dieses Buch

Deutschland hatte kaum Kolonien, die heute das öffentliche Klima mitbeeinflussen und beleben könnten. Gerade deshalb sind die postkolonialistisch geprägten Multikulturalismus-Theorien des englischen Sprachraumes für unsere gesellschaftspolitische Debatte heute von entscheidender Bedeutung: Eine Gesellschaft, die dem Fremden zunehmend in ihrer Mitte statt an den Peripherien der Geographie wie des Bewußtseins begegnet, kann es sich nicht leisten, auf diese Chance zu verzichten; sie muß Konzepte der Alterität, der Hybridität, der Globalität erneut und grundsätzlich überdenken. Die vorliegende Anthologie will einen Betrag zu dieser Diskussion leisten. Sie versammelt erstmals Texte der maßgeblichen anglo-amerikanischen Theoretiker in deutscher Sprache: die "Klassiker" Benedict Anderson und Edward Said ebenso wie Homi K. Bhabha, Frederic Jameson, Iain Chambers, Stuart Hall und Cornel West.

 

Stauffenburg Verlag

Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte

 

Nach der ersten Heimat ist ihm die zweite zwitterig und windig.

Rainer Maria Rilke (1)

Heimat - Identität - Nation

Angesichts der Realität von Massenmigration in einer global mobil werdenden Welt und angesichts der Ortlosigkeit vieler Zeichen im scheinbar locker und durchlässig gewordenen postmodernen Symbolgefüge ist festzustellen: Heimatlosigkeit ist kein angenehmer, geschweige denn ein anzustrebender Zustand. Wie nie zuvor scheint Hölderlins Ausruf zuzutreffen: "Ein Zeichen sind wir, deutungslos!" Menschen, Waren, Dienstleistungen, Informationen und Zeichen sind in großen Wanderungsbewegungen auf der gesamten Erdoberfläche und im All unterwegs; doch im Gegensatz zu einer traditionellen Wanderung, bei der Herkunftsort und Ziel der Reise bekannt sind, handelt es sich hier eher um Migrationen, bei denen weder Ankunft noch Rückkehr sicher gegeben sind (2).

Doch gerade die Situation, die uns zu dieser Feststellung zwingt, fordert auch auf, den Begriff Heimat neu zu überdenken. Wenn Heimat das ist, wohin man zurückkehrt, so setzt dies voraus, daß es etwas gibt, zu dem man zurückkehren kann. Heimat bedeutet die Möglichkeit des Rückgriffs auf nicht-beliebige, vertraute Strukturen. Das ist es, was Identität ermöglicht, und zwar sowohl personale wie kollektive Identität. Das tendiert auf der einen Seite in Richtung der Selbstorganisation psychischer Systeme, die auf Bewußtsein basieren, auf der anderen Seite in Richtung der Selbstorganisation sozialer Systeme, die auf Kommunikation beruhen. Es geht also um die Identität von Subjekten, Personen, Individuen einerseits, von Gemeinschaften, Kollektiven und Gesellschaften andererseits. Grundlegend für die gesamte Postkolonialismus- und Multikulturalismusdebatte, die an diesem Spannungsfeld anknüpft, zeigt Benedict Anderson paradigmatisch am Fall des Konzepts Nation, daß kollektive Identitäten keine naturwüchsigen oder metaphysischen Gegebenheiten sind, sondern daß sie spezifische kulturelle Konstitutionsbedingungen haben. Erst die Heraufkunft von Roman und Zeitung haben jenen Wandel in den grundlegenden sozialen Wahrnehmungsformen voll Raum und Zeit ermöglicht, innerhalb dessen sich das Nationen-Konzept ansiedeln konnte: die Vorstellung eines sozialen Organismus, einer festen Gemeinschaft, die kalendarisch durch eine homogene, leere Zeit fortschreitet. GIeichzeitig weist Anderson auf eine Funktionsübernahme der modernen Nation von früheren kulturellen Systemen hin: Die Nation übernimmt in der Moderne Funktionen der religiösen Gemeinschaft und des dynastischen Reichs, die in Alteuropa eine sakrale Semantik als Kompensationsstruktur für die Arbitrarität der zeichengestützten Kommunikation garantiert hatten. Die Welt hatte in Gott ihren äußersten Rahmen; Gott ist das transzendente Zeichen, in das alle Sinnstrukturen eingebettet sind; in Gott kann die Gesellschaft ihre Selbstreferenz externalisieren. Dynastische Reiche legitimieren ihre Macht aus der religiösen Fundierung herrschender Weltansichten. Säkularisierung, verstanden als die graduelle Auflösung dieser sakralen Semantik, erfordert neue Strukturen, die nun an ihrer Stelle eine Transformation von Kontingenz in Bedeutung und von Schicksal in Kontinuität leisten können. Genau hier setzt das Nationenkonzept an. Die Nation kann so als imaginäre Gemeinschaft verstanden werden. Es handelt sich um eine phantasmatische Konstruktion, die auf ein fundamentales Begehren nach Sinn und Kohärenz reagiert. In psychosemiotischer Terminologie könnte man davon sprechen, daß solche imaginären Phantasmen die paradoxe Funktion haben, eine notwendige Lücke in der symbolischen Ordnung zu verdecken, indem sie sie artikulieren: Die Nation ist eine Schutzdichtung, der für eine gewisse Zeit die Aufgabe übertragen wurde, menschliche Gesellschaft und Kultur (ihre "Realität") zunächst in Europa, dann in anderen Teilen der Welt, vor einem Einbrechen des Realen zu bewahren, d.h. letztendlich vor der Bedrohung durch Kontingenz, Fehlbarkeit und Sterblichkeit zu schützen. Paradigmatisch und selbstbezüglich zugespitzt repräsentiert sich die Nation - darauf weist Anderson hin - in der Konvention des nationalen Heldengrabes: Gerade die selbsterzeugten Toten der zwischen Nationen (!) geführten Kriege werden als Opfer für die (nicht: der) Nation in einen durch die Nation garantierten Sinnhorizont eingebettet. Als Nabel und Fluchtpunkt der nationalen Identität stellt das Heldengrab eine Repräsentation der Nation dar, die diese im selben Zuge konstituiert und gleichzeitig selbstbezüglich paradoxiert. Die Erfahrung der Massenkriege, Massenmorde und Massenmigrationen des 20. Jahrhunderts müßte in uns einen scharfen Sinn für diese Problematik geweckt haben und uns zu der Frage führen, ob das Nationenkonzept seine Funktion (noch) zu erfüllen imstande ist.

Das Konzept der Nation in Frage zu stellen bedeutet nicht, kollektive Identität überhaupt als unnötig abzutun. Soziale Heimatlosigkeit ist problematisch, und die gelingende Selbstorganisation des Sozialen bedarf wohl imaginärer Gemeinschaften im Sinne notwendiger Fiktionen oder Schutzdichtungen, denn gerade sie tragen dazu bei, Kontingenz zu bannen. Nur müßte es heute wohl - um die Richtung der folgenden Überlegungen anzudeuten - weniger um Ausschluß des nicht Dazugehörigen gehen, sondern vielmehr um die Produktivität interner Differenzen. Entscheidend für die Umkonzeptionierung der Idee kollektiver Identität weg vom Nationenmodell ist in einern ersten Schritt natürlich die Dekonstruktion der Unterscheidung von Natur und Kultur in bezug auf Nationen. Nationen beschreiben sich selbst als organisch gewachsene, also quasi-natürliche Gebilde; ein Beobachter zweiter Ordnung kann dies als fiktionales Konstrukt erkennen, das gleichwohl reale Auswirkungen hat(4). Daraus kann aber nicht geschlossen werden - und das war ein weitverbreitetes, folgenreiches Mißverständnis in der postmodernen Rezeption von Dekonstruktion und Poststrukturalismus -, daß personale und kollektive Identität Effekt eines Spiels frei flottierender Zeichen ist. Die Feststellung, daß Identität nicht naturgegeben ist, bedeutet nicht umgekehrt, daß sie Resultat einer beliebigen Wahl in einer flachen, simultanen Gegenwart ist.(...)

(Auszug aus der Einleitung, ebd. S. 1-3)

Stauffenburg Verlag