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Abrahams Enkel. Juden, Christen, Muslime und die Schoa

Dieser historisch-theologische Sammelband erschließt erstmalig das komplexe und ambivalente Verhältnis aller drei Religionen zum Nationalsozialismus und zur Schoa. Dabei analysieren die Studien nicht nur die jüdische oder die christliche Perspektive auf Auschwitz, sondern eben auch die muslimische.

Zum Geleit

Der 11. September 2001 und dessen Folgen sowie der Nahostkonflikt führen uns täglich vor Augen, welch globale Probleme die Parallelexistenz der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zur Folge haben kann. Schon im 20. Jahrhundert und hierbei explizit in den Jahren 1933 - 1945 wurde diese Problematik überdeutlich. Die heutigen Konflikte müssen dabei ohne die Betrachtung der damaligen unverständlich bleiben. Betrachtet man die Muslime während der NS-Zeit, zeigen sich hier durchaus Ambivalenzen. Wie bei jeder Weltreligion, die in sich mehr oder minder heterogen ist, muss selbstverständlich auch bei den Muslimen vor Verallgemeinerungen gewarnt werden. Gleichwohl sind durchaus Konvergenzzonen mit der nationalsozialistischen Politik auszumachen. Die historische Gestalt, die diese Konvergenzzonen - vor allem in Form der Judenfeindschaft - verkörpert, ist der ehemalige Großmufti von Jerusalem, Hadj Amin al­Husseini. Betrachtet man die von Gerhard Höpp publizierten Dokumente des Großmuftis, so fallen vor allem die typischen Ideologeme antijüdischer Vorstellungen auf. Al-Husseini floh aus Palästina über Umwege nach Italien. Hier traf er am 11. Oktober 1941 Mussolini, wenige Wochen später nach seiner Ankunft in Deutschland empfing ihn Hitler am 28. November 1941 in Berlin.(1) Der "Großmufti" befand sich also direkt in Nazi-Deutschland, und hier war er nicht der einzige Moslem. Nach Schätzungen lebten zu dieser Zeit rund 3000 Muslime in Deutschland, vermutlich waren rund 400 davon deutschstämmig.(2) Diese Muslime verfügten über institutionelle Bindungen inmitten des "Dritten Reichs", wie das "Islamische Zentralinstitut". Bei der Eröffnung des Instituts hielt der Großmufti die Festansprache, und es verwundert nicht, dass er auch hier gegen "Juden, Bolschewisten und Angelsachsen" hetzte.(3)

Antijüdische Denkstrukturen finden sich wie bei den Muslimen in dieser Zeit auch bei den Christen. Dieser Befund ist wenig neu und wird kaum Verwunderung hervorrufen. Diese ablehnende Haltung beruht jedoch weniger auf den veränderten politischen Rahmenbedingungen ab dem Jahre 1933, sondern die Ablehnung liegt in der Wurzel der Geschichte des Christentums. Teile der neutestamentlichen Schriften waren sicher das Fundament, auf dem die spätere christliche Theologie aufbauen konnte und wollte. Daher wird es auch wenig überraschen, dass gerade im "anderen Deutschland", im Deutschland der inneren und nach außen getragenen christlichen Opposition, zahlreiche antijüdische Positionen zu finden sind. Als Beispiel für mögliche gemeinsame Teilinteressen von deutschen Zionisten und nationalsozialistischer Politik könnte die "Äußerung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland zur Stellung der Juden im neuen deutschen Staat" vom Juni 1933 dienen. Hier sind Sätze zu lesen wie:

"Wir glauben, daß gerade das neue Deutschland durch einen kühnen Entschluß in der Behandlung der Judenfrage einen entscheidenden Schritt zur Ueberwindung eines Problems tun kann, das in Wahrheit von den meisten europäischen Völkern behandelt werden muß, auch von solchen, die in ihrer außenpolitischen Stellungnahme heute die Existenz eines solchen Problems in ihrer eigenen Mitte leugnen."(4)

Sicher muss dieses Dokument mit größter quellenkritischer Sorgsamkeit bearbeitet werden. So ist eine vorgetäuschte Anpassung an nationalsozialistische Argumentationsmuster zu beachten, die darauf abzielte, die Position der deutschen Juden positiv zu beeinflussen, ohne jenen Argumentationen tatsächlich zuzustimmen. Folglich sind Interpretationen sowohl hinsichtlich gedanklicher Berührungspunkte als auch taktischer Motive denkbar.

Mit diesem historisch-theologischen Sammelband soll sich dem komplexen und ambivalenten Thema des Verhältnisses der drei abrahamitischen Religionen zum Nationalsozialismus und zur Schoa angenähert werden. Denn nicht nur die jüdische oder die christliche Perspektive auf Auschwitz soll bearbeitet werden, sondern eben auch der Islam ist diesbezüglich zu analysieren. So entsteht erstmals der Versuch, diese drei Religionen gemeinsam im Verhältnis zum Nationalsozialismus und auch zur Schoa zu untersuchen. Selbstverständlich kann dies diesem Projekt nicht umfassend gelingen, so dass die Herausgeber zu dem Schluss gekommen sind, nicht naheliegende und konventionelle Wege einzuschlagen, sondern sich auf einige Aspekte, ja bewusst gewählte Randbereiche zu beschränken. Dabei sollen u.a. mögliche Berührungspunkte der Religionen mit dem Nationalsozialismus herausgestellt werden. Zudem sind Entwicklungen nach 1945 und die entsprechenden Reaktionen der drei Weltreligionen auf die Schoa herauszuarbeiten. Sich diesem komplexen Thema anzunähern, erschien den Herausgebern nur möglich auf einem interdisziplinären Weg. So finden sich hier ebenso historiographische und theologische Ansätze wie sozialwissenschaftliche. Da der Antisemitismusbegriff gespickt von inhaltlichen Widersprüchen und ausgefüllt mit unterschiedlichen Definitionen ist, soll vor dem ersten Hauptkapitel dieses Buches versucht werden, etwas Licht ins semantische Durcheinander zu bringen. Dieser Aufgabe geht Sönke Zankel in seinem Beitrag zum Antisemitismusbegriff nach.

Im ersten Kapitel wenden sich die Autoren Carsten Teichert und Sönke Zankel dem historischen Brennpunkt zu. Teichert widmet sich dem deutschen Zionismus und seinem Verhältnis zu den Nationalsozialisten, Zankel wendet sich einem der Mentoren von Hans Scholl - führender Kopf der so genannten "Weißen Rose" - und seinem Verhältnis zu den Juden zu. Der Beitrag zum Islam war ursprünglich Gerhard Höpp zugedacht, der sich den während der NS-Zeit in Deutschland lebenden Muslimen und ihrem Verhältnis zu den Juden widmen sollte. Urplötzlich ist der Berliner Professor Ende 2003 verstorben. Diese Fachinstanz für die Muslime während der Zeit des Nationalsozialismus hat zwar ein umfangreiches Werk hinterlassen, doch die Wissenschaft muss nicht nur um einen äußerst sympathischen Zeitgenossen trauern, sondern auch um die zahlreichen Beiträge, mit der er den akademischen Diskurs noch hätte bereichert. Sönke Zankel widmet sich in diesem Kapitel dem bereits erwähnten Großmufti von Jerusalem und versucht, seine antijüdischen Thesen zu kategorisieren, um somit seine Judenfeindschaft zu dechiffrieren.

Das zweite Kapitel wird begonnen mit dem theologischen Beitrag von Günter Wasserberg zu den beiden großen christlichen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und ihren Umgang mit dem christlichen Antijudaismus. Götz Nordbruch setzt unmittelbar bei der gegenwärtigen Rezeption der Schoa in der arabischen Welt an. Anhand des Fallbeispiels einer Diskussion auf dem Sender al-Jazeera TV arbeitet er vorhandene Argumentationsmuster heraus. Micha Brumlik eröffnet in diesem Kapitel abschließend die Perspektive auf Überlegungen zum zukünftigen jüdisch-islamischen Dialog.

Der dritte Abschnitt widmet sich den theologischen Fragen und verabschiedet sich von dem Dreischritt, sich jeder der abrahamitischen Religionen einzeln zu widmen. Stattdessen fragt Heribert Busse nach der Darstellung von Christen und Juden im Koran. Die Frage nach dem Antijudaismus im Neuen Testament wird hier nicht gestellt. Der evangelische Theologe Joachim Liß-Walther richtet den Fokus auf die Bergpredigt und fragt anhand dieser Sammlung Von Jesus-Worten, ob der historische Jesus sich innerhalb der verschiedenen Strömungen des Judentums bewegte oder diese überwandt. Georg Langenhorst widmet sich zudem der Rezeption des Hiobbuchs in den drei abrahamitischcn Religionen, denn hier steht die Frage nach dem Leiden des Menschen im Zentrum - eine Problematik, die in Bezug auf die Schoa erschütternd und radikal aktuell geworden ist. Der Band endet mit einer Dokumentation. Norbert Masur, ein Vertreter des jüdischen Weltkongresses, war im April 1945 zu Heinrich Himmler nach Berlin gereist. Dort führte er Verhandlungen über das Leben zahlreicher, sich in der Hand der Nationalsozialisten befindenden Juden. Erstmals erschien sein Erinnerungsbericht 1945 in Stockholm. Eine seriöse deutsche Übersetzung, obwohl oft eingefordert, lag bis jetzt nicht vor. Hauke Siemen ist es zu verdanken, dass diese Lücke nun geschlossen wurde und die Mythen, die sich in der einschlägigen Literatur um diesen Text sammeln, widerlegt werden können. Die Konzeption dieses Bandes musste im Einstehungsprozess mehrmals modifiziert werden - einer der Gründe wurde bereits genannt. Auf Grund dieser Verzögerung konnte zum Teil in einigen Beiträgen nicht immer auf die jüngste Forschungsliteratur zurückgegriffen werden. Dies bitten die Herausgeber zu entschuldigen.

Die Herausgeber bedanken sich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Verfassern der einzelnen Beiträge für ihre geopferte Zeit. Ebenso gilt der Dank der Ranke-Gesellschaft und dem Franz Steiner Verlag für die Ermöglichung dieser Publikation. Zuletzt sei der hilfsbereiten redaktionellen Betreuung durch Katrin Fricke und Susanne Ganster gedankt.

Es bleibt die Hoffnung, dass die religiösen und religiös-mitbedingten Unruheherde dieser Welt in der nächsten Zukunft erlöschen werden. Zwar deuten die aktuellen politischen Ereignisse nicht in diese Richtung, aber die friedliche Grundstruktur der drei abrahamitischen Religionen gibt die notwendige Zuversicht.

 

(Günther, Niklas / Zankel, Sönke: Zum Geleit, ebd., S. 7-9)

Überlegungen zu einem künftigen Jüdisch-Islamischen Dialog

Micha Brumlik

Der Konflikt zwischen der jüdischen Bevölkerungsmehrheit des Staates Israel und den in den Grenzen von 1967 lebenden Palästinensern, zunehmend auch den israelischen Staatsbürgern arabischer Ethnizität, überlagert zu Beginn des dritten Jahrtausends alle Gespräche zwischen Juden und Muslimen - obwohl der Islam keineswegs der einzige Glaube ist, der im palästinensischen Volk bekannt wird. Viele der Anschläge, denen jüdische Israeli in jüngster Zeit zum Opfer fielen, wurden von einer Organisation der El Fatah, der "Aqsa Brigade" verübt, die sich nicht zufällig auf den Tempelberg beruft. Indem darüber hinaus die arabischen Sprachen mit ihren ganz unterschiedlichen Interessen an diesem Konflikt beteiligt sind, spielt die Frage nach dem völkerrechtlichen Status Jerusalems, dessen Tempelberg für den islamischen Glauben ein zentrales Heiligtum ist, eine verschärfende Rolle. Entsprechend gibt es im Mittleren Osten - sieht man von gelegentlichen Kontakten der strikt antizionistischen chassidischen  Sekte "Neturej karta" etwa mit offiziellen iranischen Würdenträgern ab - derlei Gespräche kaum. In der Diaspora, zumal in den Vereinigten Staaten oder auch hier in Deutschland, waren und sind es vor allem die christlichen Kirchen, die ein entsprechendes Gespräch immer wieder unter der Devise des "Trialogs" bzw. dem gemeinsamen Nenner der sog. "abrahamitischen Religion" in Gang zu bringen versuchen und sich dabei eine gern gesehene Mittlerfunktion zuschreiben. Diese zentrale Rolle christlicher Kirchen für das Gespräch zwischen Judentum und Islam ist indes kein Zufall, sondern das Ergebnis einer historischen Konstellation, die Judentum und Islam in Europa spätestens  seit der Reconquista als in der Regel unterdrückte Minderheiten kennt, die spätestens im Zeitalter der Aufklärung eine gewisse Rehabilitierung erfuhren.  (1)  Dafür steht der Name des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing. Die vermittelnde Rolle der christlichen Kirchen scheint aus einer systematischen Konstellation zu resultieren: als vermeintliche Tochter-, in Wirklichkeit Schwesterreligion (2) des rabbinischen Judentums komme dem Christentum eine gleichsam natürliche, systematische Mittlerfunktion zu. In Frage steht nun, ob Judentum und Islam auch unvermittelt, genauer ohne das Christentum, miteinander ins Gespräch kommen können. Immerhin sind die Gemeinsamkeiten gegenüber dem Christentum beträchtlich: beide Religionen bekennen nicht nur einen, sondern auch einen einfaltigen, gnädigen und gerechten Gott, beide lehnen jede Abbildung Gottes ab, beide sehen als zentrale Gabe der göttlichen Gnade an die Menschen eine praktikable Weisung zum Leben, die Tora und den Qur'an, beide Religionen, rabbinisches  Judentum und jedenfalls islamische Orthodoxie, stehen messianischen Vorstellungen, bzw. einem verwirklichten Messianismus zumindest skeptisch gegenüber, im Zentrum beider Religionen steht - wie im Christentum - das Wort Gottes, das im Christentum Mensch, Im Judentum und Islam hingegen Buch wurde. Man könnte es bei diesen Gemeinsamkeiten belassen und sich ansonsten auf die von Montesquieu bis Lessing und Goethe (3) entfaltete aufklärerische Lesart des Islam beschränken, die in diesem Glauben eine Art universalistische, deistische Toleranzreligion gesehen hat, was - wie alle, die sich nur ein wenig auskennen, einräumen müssen - in dieser Schlichtheit einfach falsch ist.

Das Bild der Juden im Qur'an und die Frage nach der Tora

Ich will daher im Folgenden einige kritische Fragen bezüglich der Wahrnehmung dessen, was der Islam für das Judentum hält, stellen. In diesem Zusammenhang werden sich auch einige neue Gesichtspunkte zur Beurteilung der Jerusalemfrage ergeben, die nur auf den ersten Blick theologisch sekundär und politisch aufgeladen wirkt.

Einen Dialog zu führen, heißt ehrlich zu sein und dem Partner auch jene Fragen nicht zu ersparen, die unter Umständen schmerzen können - ohne diesen Schmerz kann es jedoch keinen Fortschritt geben. Die Hauptschwierigkeit des jüdisch-islamischen Dialoges besteht meines Erachtens darin, dass - wenn ich das richtig verstanden habe - für den Islam der Glaube, dass der Qur'an, der ja Basis aller islamischen Meinungen über das Judentum darstellt, vom ersten bis zum letzten Wort von Gott stammt und damit wahr ist. Wenn ich recht verstanden habe, ist diese Überzeugung für gläubige Muslime ebenso zentral wie für Christen der Glaube daran, dass das Grab Jesu am dritten Tag leer war. Diese Problematik war dem Urheber des Qur'an, der das existierende Judentum und Christentum vorgefunden hat, von allem Anfang bewusst. So heißt es in der neunundzwanzigsten Sure, der "Spinne", in den Versen 45-51:

"Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn in bester Weise, außer mit je­nen von ihnen, die ungerecht handelten; und sprechet: "Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt ward zu euch; uns unser Gott und euer Gott ist ein einiger Gott, und ihm sind wir ergeben." Und also sandten wir zu dir das Buch hinab, und diejenigen, denen wir die Schrift gaben, glauben daran; auch von diesen (Arabern) glauben manche daran, und nur die Ungläubigen bestreiten unsere Zeichen. Und nicht verlasest du vor ihm ein Buch und schriebst es nicht mit deiner Rechten; dann würden wahrlich diejenigen, die es für eitel halten, gezweifelt haben. Vielmehr ist es ein deutliches Zeichen in den Brüs­ten derer, denen das Wissen gegeben ward, und nur die Ungerechten bezweifeln unsere Zeichen. Und sie sprechen: "Warum wurden nicht Zeichen von seinem Herrn auf ihn herabgesandt?" Sprich: "Siehe, die Zeichen sind allein bei Allah, und ich bin nur ein of­fenkundiger Warner." Genügt es ihnen nicht, dass wir das Buch auf Dich herabsandten, ihnen verlesen zu werden? Siehe, hierin ist wahrlich eine Barmherzigkeit und eine Er­mahnung für gläubige Leute. Sprich: "Allah genügt zwischen mir und euch als Zeuge."

Das heißt nichts anderes, als dass das zentrale Wunder eine Offenbarung ist, die von ihrem Autor, Gott, als wahr beglaubigt wird. Die Schwierigkeit, die uns auch heute noch beschäftigt, nämlich die historische und textkritische Infragestellung einzelner Aussagen des Qur'an ist von seinem Autor hellsichtig vorweggenommen worden, die zentrale Aussage findet sich in Vers 47 der 29. Sure: "Und nicht verlasest du vor ihm ein Buch und schriebst es nicht mit dei­ner Rechten..."

Die genannte Schwierigkeit besteht nun darin, dass der Qur'an Aussagen über das Juden­tum enthält, die jedenfalls uninterpretiert und auf den ersten Blick offensichtlich falsch sind. Was weiß der Qur'an über die Juden?

Sie glauben, (2,59) - wie Christen und Sabäer - an Allah. Ihnen wurde die Tora hinabge­sandt, die eine Leitung und ein Licht enthält, die ihnen durch die Propheten zum Gericht wurde (5,45); auch ihre Rabbinen und Lehrer richteten nach diesem Buch, der Tora, die ihnen anvertraut war und die sie bezeugten. Gleichwohl haben die Juden Allahs Wort wissentlich verkehrt (2,70) und behaupten sogar, dass Allah nicht mehr in die menschlichen Geschicke eingreift (5,G9) akzeptieren jedoch ihrerseits nur jene, die ans Judentum glauben (2,114), sind missionseifrig (2, 129); es gibt unter ihnen einige, die den Sinn der Schrift verkehren (4,48/5,45)) und Allah hat sie für ihren Unglauben verflucht (4,49), sind sie doch neben den Götzendienern die schlimmsten Feinde der Gläubigen (5,85); sie haben so sehr gesündigt, dass Allah ihnen gute Dinge, die ihnen erlaubt waren, verwehrt hat (4,158/G,147)) da sie Wucher genommen haben (4,159) und bestreiten, dass Allah einem Menschen etwas offenbart hat (6,91); sie sind Geschöpfe Gottes, denen er, wenn er will, verzeiht (5,21) und am Tag der Auf­erstehung richten wird( 22,17); sie sehen Esra als Allahs Sohn und die Rabbinen als Herren an (9,30), weswegen Allah sie zur Auswanderung trieb (59,2 ff). Die Juden, die mit der Tora be­lastet wurden und sie nicht tragen wollten, gleichen somit einem Esel, der Bücher trägt. (62,5).

Im Unterschied zum Christentum, das stets behauptete, über die ungenügende und unvoll­endete Tora hinaus eine substantielle Erfüllung und Erneuerung erfahren zu haben, zeiht der Qur'an die Tora an keiner Stelle der Unvollständigkeit oder - wie etwa bei Paulus - gar der Todesverhaftung. Die Polemik des Qur'ans gilt nicht der Tora, sondern den Juden, die sie nicht angemessen erfüllen und sogar verfälscht haben und darüber hinaus bezweifeln, dass der Prophet ebenfalls die Tora empfangen hat.

Es ist im Dialog von Christentum und Judentum mit dem Islam üblich geworden, diese drei Religionen als abrahamitisch (4) zu bezeichnen und somit - gewissermaßen als kleinsten gemeinsamen Nenner - den Gottergebenen Gläubigen Abraham ins Zentrum zu stellen. Das wird dann verständlich, wenn es um die Inklusion des Christentums geht, das sich im Bilde des gottergebenen Glaubenden ebenfalls wiedererkennen kann: mindestens die paulinische Theologie stellt ja den Glauben ungleich höher als Gottes Weisung, die Tora. Es ist freilich keineswegs zwingend, Abraham in den Mittelpunkt zu stellen - mindestens Juden und Musli­me könnten auch die Tora in den Mittelpunkt eines Dialogs stellen, die Tora, die nach Sure 5,45 eine Weisung und ein Licht enthält und welche im Judentum jeden Sabbat bei der Lesung aus ihr als "Leben der Welt" gepriesen wird, die Gott Israel gegeben hat. Der Qur'an ist aus­weislich Sure 46, 11 nichts anderes als eine in arabischer Sprache gehaltene Bestätigung der Tora: "Aber vor ihm war das Buch Mosis, eine Richtschnur und eine Barmherzigkeit. Und dies ist ein Buch, das es in arabischer Sprache bestätigt, um die Ungerechten zu warnen, und eine frohe Botschaft für die Rechtschaffenen." Beides, die dem Moses geoffenbarte Tora und die Mohammed gesandte arabische Bestätigung gehen jedoch auf eine Urschrift zurück, die bei Gott selbst vewahrt ist, wie Sure 43,1-3 bestätigt: Ha Mim bei dem deutlichen Buch. Siehe wir machten es zu einem arabischen Koran, auf dass ihr vielleicht begriffet. Und sieh, es ist in der Mutter der Schrift bei uns - wahrlich ein hohes, weises."

Die qur'anische Offenbarung bestätigt sich selbst als Kopie einer präexistenten, d.h. vor der Schöpfung zu Gott gehörenden Urtora, ein Gedanke, der sich auch in der rabbinischen Theologie findet. So wird Rabbi Akiba unter anderem folgende Aussage zugeschrieben: "Geliebt sind die lsraeliten, denn ihnen wurde das Werkzeug gegeben, mit dem die Welt erschaf­fen ist. Noch größere Liebe ist es, dass ihnen kundgetan wurde, dass sie das Werkzeug der Weltschöpfung erhalten haben; denn es heißt (Spr 4,2) "Eine gute Lehre habe ich gegeben; laß nicht los meine Tora". Und in Sifrej Deuteronomium können wir lesen: "Und so findest du es in der Art Gottes, das alles, was von Gott geliebt ist, dem anderen vorausgeht. Die Tora, weil sie das Geliebteste von allem ist, wurde vor allem erschaffen..." (5) Es sei nicht unterschlagen, dass dieser Midrasch auch das Heihgtum in Jerusalem und das Land Israel für präexsistent er­klärt, gleichwohl: Judentum und Islam gehen beide von einer Urschrift der Tora aus, die dem Leben der Menschen Licht und Weisung gibt und zugleich Werkzeug seiner Schöpfung gewe­sen ist. Es sei nur ergänzend darauf hingewiesen, dass wiederum aus historisch kritischer Per­spektive jüdische Gelehrte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wie Abraham Gei­ger (6), Ignaz Goldziher (7) und zuletzt S.D. Goitein (8) die These vertreten und belegt haben, dass in den Grundschichten des Qur'ans als eines Dokuments einer Zeit nicht wenige jüdisch­-rabbinische Regelungen Eingang; gefunden haben.(9) Stellt man also - anders als im bisherigen Dialog - nicht Abraham, sondern Gottes Urschrift, die Tora, ins Zentrum der Betrachtung, so ließe sich pointiert sagen, dass die jüdische Religion die Tora vollenden, während das Chris­tentum sie revolutionieren und der Islam sie restaurieren wollte.

Das wird an der Auseinandersetzung des Qur'ans mit einer historischen jüdischen Gestalt, die nicht zufällig für die jüdische Religion im Ganzen steht, besonders deutlich. Religionsge­schichtlich meinen wir heute zu wissen, dass das Judentum in seiner heutigen Gestalt, als rab­binisches Judentum, kaum älter ist als die ältesten Gruppen des Christcntums, beide rabbini­sche Juden und messianische Juden entwickelten sich freilich auf der Basis einer jüdischen Re­ligion, die als solche und unter diesem Begriff - anders als "Israel" bzw. die israelitische Reli­gion - vergleichsweise spät, nämlich erst nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil, entstanden ist und für die die Namen und Personen von Esra und Nehemia stehen. "Esra" (10) ist nun eine dem Qur'an bekannte Gestalt, die dort unter dem Namen "Uzair" auftritt und ei­ne prekäre Rolle spielt.

Das Esra / Uzair Problem

So schreibt die neunte Sure, die Reue, Vers 30 bis 32:

"Und es sprechen die Juden: " Esra ist Allahs Sohn." Und es sprechen die Nazarener: "Der Messias ist Allahs Sohn." Solches ist das Wort ihres Mundes. Sie fuhren ähnliche Reden wie die Ungläubigen von zuvor. Allah schlag sie tot. Wie sind sie verstandeslos. Und sie nehmen ihre Rabbinen und Mönche neben Allah und dem Messias, dem Sohn der Maria zu Herren an, wo ihnen doch allein geboten ward, einem einzigen Gott zu dienen, außer dem es keinen Gott gibt. Preis ihm, (er steht hoch) über dem, was sie ne­ben ihn setzten."

Die offensichtliche Falschheit der Aussage über das Judentum wird an der offensichtlichen Richtigkeit der Aussage über das Christentum besonders deutlich: Kein Christ würde bestrei­tcn, dass der von ihm bekannte Messias, Jesus von Nazareth, der Christus, Gottes Sohn, ist. Indem der Qur'an die Sohnschaft des messias Jesus mit der vermeintlichen Sohnschaft Esras parallelisiert, unterstellt er, dass Esra, neben all seinen historischen und politischen Verdiens­ten um die Begründung der jüdischen Religion nach dem babylonischen  Exil im Judentum, auch eine - sagen wir - theologische und soteriologische Rolle spielt. Das ist jedoch nicht der Fall. Angesichts dieses Umstandes scheint eine aussichtslose Lage zu entstehen: Wenn der Qur'an vom ersten bis zum letzten Buchstaben Gottes Wort ist, hat sich Gott in dieser Frage entweder geirrt, oder: wenn diese Fehleinschätzung nur als historisch gilt, dann gerät das zent­rale Dogma des Islam - dass der Qur'an vom ersten bis zum letzten Wort Gottes sei - ins Wanken.

Nun ist dieses Problem nicht neu. Die mittclalterliche islamische Apologetik Lind Polemik etwa bei Tabari im 9. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung oder bei dem spanischen Polemi­ker Ibn Hazm (11) (994- 1064) im 10. Jahrhundert hat in diesem Zusammenhang schon früh auf die legendenartige Fortschreibung einer kurz nach der römischen Zerstörung Jerusalems wahrscheinlich auf hebräisch verfassten, zunächst jedoch nur auf griechisch, dann in anderen Sprachen vorliegendcn Schrift, auf das sogenannte "Vierte Buch Esra", das als die im Alter­tum verbreitetste Apokalvpse gilt, hingewiesen. So berichtet Tabari eine Legende, gemäß de­rer das Volk Israel nach seinen Sünden uon Gott dadurch bestraft wurde, dass ihm die Bun­deslade wieder genommcn wurde, was zum Vergessen der 'I'ora führte. Esras Reform führte schließlich nach Tabari dazu, dass Israel der Tora wieder inne wurde, und als dem Volk die Bundeslade zurückerstattet wurde, stellte es fest, dass der Wortlaut der geschrieben Tora mit jener identisch gewesen sei, was es durch Esra erfahren habe.

Daher habe das Volk geglaubt, dass Esra der Sohn Gottes gewesen sei. Der israelische Gelehrte Hirschberg behauptete 1947 unter Bezug auf den mittelalterlichen Polemiker Ibn Hazm, dass eine sich selbst als "Gerech­te" bezeichnende jüdische Gruppe im Jemen an Esra als den Sohn Gottes glaubten. Andere Muslime waren der Auffassung, dass einige zum Islam konvertierte Juden im Jemen in diesem Sinn an Esra glaubten. Unabhängige historische oder ethnographische Belege für diese These liegen allerdings nicht vor.

Auf jeden Fall scheint Übereinstimmung darin zu bestehen, dass diese Legenden auf das apokryphe, nichtkanonische "Vierte Buch Esra" (12) zurückgehen, zumal auf die Verse 18 - 27 im vierzehnten Kapitel:

"Ich antwortete und sprach (so lässt der Autor hier Esra sprechen): Laß mich Herr, vor dir sprechen. Ich scheide jetzt, wie du mir befohlen, und will das Volk, das jetzt lebt, unterweisen. Aber die später geborenen, wer wird die belehren? Denn die Welt liegt in Finsternis, ihre Bewohner sind ohne Licht. Denn dein Gesetz ist verbrannt, so kennt niemand deine Taten, die du getan hast und die du noch tun willst. Wenn ich also Gna­de vor dir gefunden habe, so verleihe mir den heiligen Geist, dass ich alles, was seit An­fang der Welt geschehen ist, niederschreibe, wie es in deinem Gesetze geschrieben stand, damit die Menschen deinen Pfad finden, und damit, die das ewige Leben begeh­ren, es gewinnen können.""

Das Buch berichtet im Folgenden, wie Esra die Tora mithilfe von fünf Männern neu geschrie­ben hat, die heiligen Schriften wieder herstellte, um schließlich für alle Ewigkeit von Gott ent­rückt worden zu sein: "Und Esra ward entrückt und an den Ort zu seinesgleichen aufgenom­men, nachdem er all das geschrieben. Er heißt für immer "Der Schreiber der Wissenschaft des Höchsten."

Das rabbinische Judentum schätzte die Bedeutung Esras etwas vorsichtiger ein und sah ihn in einer Tossefta (zu Sanhedrion 4:7) als einen möglichen zweiten Moses: "Wäre Moses ihm nicht vorausgegangen, so hätte Esra die Tora empfangen."

Dem lässt sich entnehmen, dass es in rabbinischer Zeit mindestens einzelne Gruppen oder Personen gegeben hat, für die Esra eine bedeutsame Gestalt gewesen ist. (13) Freilich geht weder die biblische noch die rabbinische Tradition an irgendeiner Stelle soweit wie das vierte Esra­buch, das eine Entrückung des Esra zu seinesgleichen annimmt - also eine Entrückung ent­weder zu Mose oder mehr noch - und dies wäre tatsächlich häretisch - zu Gott selbst.

Wir wissen historisch nur über den Glauben jener jüdischen Stämme auf der arabischen Halbinsel, der Himyariten, (14) bzw. über das auf der Halbinsel verbreitete Judenchristentum' (15), mit dem Mohammed konfrontiert war. Freilich erwägt die Forschung die Möglichkeit juden­christlicher Bestandteile jener jüdischen Stämme, mit denen sich der Prophet auseinanderzu­setzen hatte. Andererseits besagt eine Legende aus Südarabien, dass die Juden Jemens sich weigerten, ihre Söhne "Esra" zu nennen, da dieser sie verflucht habe, als sie sich weigerten, auf seine Einladung hin zurück ins Land Israel zu ziehen. (16)

Fragt man sich, warum der Qur'an den            Juden vorhält, den Esra zu verehren, dann bleibt - betrachtet man die Angelegenheit historisch - keine andere Möglichkeit, als dass der Prophet entweder von entsprechenden Gruppen gehört hat oder - was freilich äußerst unwahrschein­lich ist bzw. sich in keiner Weise belegen lässt - Kenntnis vom Esrabuch gehabt haben muss. Systematisch fallen eine Reihe von Parallelen auf, die den Propheten in einer Konkurrenzsi­tuation zu Esra erscheinen lassen könnten: Wie auch Mohammed, so gilt Esra als der Emp­fänger einer erneuerten Weisung, nachdem das Volk Israel der Uberlieferung nach die Tora aufgegeben oder verfälscht hatte. Mit seiner Kritik am Verhältnis der Juden zu Esra bestreitet der Qur'an nicht die Wahrheit der Tora, sondern durchaus scharfsinnig die Legitimität des Ju­dentums, denn: "Die Epoche der Restauration unter Nehemia und Esra" - so der Alttesta­mentler Herbert Donner - "war die Geburtsstunde des Judentums."' (17)

Die Argumente der Konvertiten

Da nach muslimischem Glauben Abraham der erste Moslem war und bekanntermaßen  vom paganen Glauben seiner Väter zum einzigen Gott gefunden hat, spielten Konvertiten im Islam stets eine bedeutendere und auch geachtetere Rolle als im Judentum. Von besonderem Inte­resse sind daher für uns jene Personen, die schon frühzeitig Juden zur Konversion zum Islam bewogen. Auf jeden Fall erscheint mir die Untersuchung ihrer Motive und ihres Wirkens me­thodisch fruchtbarer zu sein als die immer wieder beschworene, klischeehafte Rede vom gol­denen, toleranten Zeitalter in Spanien. Die wesentlichen Dialoge zwischen Judentum und Is­lam haben sich wohl früher, zwischen jüdisch-islamischen Konvertiten und Juden, die Juden blieben, abgespielt. Auch hier steht wiederum der Gedanke derTora im Zentrum.

Es mag dieser gemeinsame Grundgedanke der Tora gewesen sein, der es früher oder später Juden im Herrschaftsbereieh des Islam ermöglichte, nicht nur aus Gründen des Schutzes vor Diskriminierung zum Islam überzutreten. An der Gestalt dieser Konvertiten, die seit dem siebten Jahrhundert bekannt sind, lassen sich Schwierigkeiten und Chancen eines jüdisch-­islamischen Dialogs prägnant aus einer historischen Perspektive betrachten.

Ka'b al ahbar (18)  war ein Zeitgenosse des Kalifen Omar und stammte aus Südarabien. Wahr­scheinlich ein Angehöriger des Himyaritenstammes, konvertierte er zur Regierungszeit Omars zum Islam. Seinen Auslegungen wird zugeschrieben, erhebliche Bezüge zur Mischna, der mündlichen Lehre des Judentums, zu enthalten. Der Historiker Tabari berichtet im 9. Jahr­hundert, dass Kab al ahbar den Kalifen bei der Eroberung Jerusalems von den Byzantinern begleitete und mit ihm in einen Disput über den Status Jerusalems und die richtige Gebetsrichtung geraten sei.

"Als Omar nach Aelia kam" so Tabari "sprach er: Bringt mir Ka'b.' Ka'b wurde zu ihm geführt, und Omar fragte ihn: "Wo meinst du, sollten wir die Gebetsstätte errichten?' ,Am Felsen' antwortete Ka'b. Bei Allah' sprach Omar du folgst dem Judentum. Ich sah dich deine Sandalen ablegen.' Ich wollte die Berührung mit meinen Füßen spüren', ent­gegnete Ka'b. Ich sah dich', sprach Omar. Doch nein... unser Gebot galt nicht dem Felsen, es lautet vielmehr, wir sollten uns zur Kaaba wenden.-"

Ka'b blieb gleichwohl bei Omar und zwar trotz dessen Entscheidung, die Qibla südlich des Felsen und nicht nördlich festzulegen. Tabari berichtet, dass er Omar vor seiner Ermordung gewarnt haben soll und war auch noch am Hofe des dritten Kalifen, und geriet angesichts einer Auseinandersetzung mit einem muslimischen Pietisten, Abu Dharr, in eine Auseinander­setzung über Modi des Geldausleihens, bei der Abu Dharr Ka'b vorhält, dass Juden Muslime nicht zu belehren hätten. Man kann an dieser Stelle die Frage nach der historischen Authenti­zität dieser Begebenheit außer Acht lassen und sich darauf beschränken festzustellen, dass die Hochschätzung Jerusalems und des Felsens, auf dem nach jüdischer Überlieferung die geplan­te Opferung Isaaks vor sich ging, wenigstens zeitweise als Ausdruck jüdischen Einflusses und einer judaisierenden Geisteshaltung angesehen wurde. So sehr die oft blutige Auseinanderset­zung um den Tempelberg in Jerusalem auch schmerzt, so sehr kommt darin - jedenfalls auf islamischer Seite - auch ein Bekenntnis zu den abrahamitischen - und, wie ich meine, - eben auch jüdischen Wurzeln des Islam zum Ausdruck.

Samawal al Magribi (20) (1125 - 1175) war Mathematiker und Physiker, wurde in Bagdad ge­boren, Sohn eines hebräischen Dichters und konvertierte im reifen Alter von etwa vierzig Jah­ren in Aserbeidschan und schrieb eine antijüdische Streitschrift "Ifham al Yahud" - "Die Ju­den zum Schweigen zu bringen". Die 1167 publizierte überarbeitete Fassung dieser Streit­schrift enthielt autobiographische Elemente, wonach der Autor im Traum den Propheten Sa­muel und Mohammed begegnet war - was ihn jedoch nur in seiner Überzeugung bekräftigte, dem Judentum rationale Argumente entgegensetzen zu können. Es war Samawal, der auf der Basis des Qur'an die Behauptung aufstellte, dass die hebräische Bibel, der Tenach, eine Zu­sammenstellung Esras gewesen sei, die zu einer fehlerhaften und unzuverlässigen Tradierung der Tora geführt habe. Esra, ein aaronitischer Priester, so behauptete Samawal, habe das Haus David als Abkömmling des illegitimen Stammbaums Lot-Moab-Ruth sowie Judah-Tamar dif­famiert und damit den Neid der Priesterschaft gegen das Königshaus zum Ausdruck gebracht. Zugleich habe er die Gegnerschaft zwischen Hebräern und ihren Nachbarvölkern wie Moab und Ammon übermäßig betont - Esra forderte nach der Rückkehr bekanntlich die Israeliten auf, sich von ihren nichtjüdischen Frauen zu trennen - und zugleich ein anthropomorphes Gottesbild mit der unsinnigen Annahme eines reumütigen Gottes postuliert. Das neugefasste kultische Gesetz des Esra habe zudem das ursprüngliche mosaische Gesetz verfälscht. Ebenso wie die Karäer, eine im achten Jahrhundert in Bagdad entstandene jüdische Sekte, die den Talmud ablehnte, (21) kritisierte er die Fortentwicklung des synagogalen Gottesdienstes sowie die Fortbildung der Speisegesetze. Maurice Ruben Hayoun, der Samawal in seinem Werk über Maimonides viel Raum gibt, paraphrasiert Samawals Polemik gegen Esra so:

"Das Studium der Tora, von dem die Rabbinen des Talmud soviel Aufhebens machen, war in Israel nicht verbreitet, nur die Söhne Aaarons kannten und studierten sie. Erst als Esra sah, daß der Tempel in Trümmern lag, der jüdische Staat zerstört war, beschloß er alle alten Schriften zu sammeln, die ihm in die Hände fielen. Esra stellte eine Tora zu­sammen, die nichts mit dem auf dem Sinai geoffenbarten Buch Gottes zu tun hatte. Samawal schließt: Dies beweist, dass der Mann, der diese verstreuten Texte formuliert hat, das Wesen Gottes nicht begriffen hatte. Wie konnte man von Gott sprechen, als sei er ein Wesen aus Fleisch und Blut? Wie konnte man Gott so unwürdige Gefühle beile­gen wie Trauer und Reue?"(22)

Gleichwohl sah Samawal in dieser von Esra angeblich verfälschten Tora Ankündigungen des Propheten Mohammed und bezog sich dabei auf Gen. 17:20 sowie Deut. 18:15-18, in dem es heißt:

"Einen Propheten aus deiner Mitte von deinen Brüdern gleich mir, wird der Ewige dein Gott dir aufstehen lassen, auf mich sollt ihr hören ...Einen Propheten werde ich ihnen auf­stehen lassen, aus der Mitte ihrer Brüder, gleich dir, und meine Worte ihm in den Mund legen, und er soll zu ihnen reden, alles, was ich ihm gebieten werde."

Als Rationalist erklärt er endlich, dass die von den jüdischen Rationalisten vorgebrachten Schlüsse zur Beglaubigung der Authentizität der mosaischen Offenbarung genauso gut auf Je­sus und Mohammed angewandt werden können, weswegen es nur konsequent sei - wie der Islam - alle drei anzuerkennen.

Im Gegenzug entwickelte er dann eine eigene Theorie des jüdischen Volkes, in der er die aktuelle politische Situation der Juden mit den im Qur'an getroffenen Aussagen zur Deckung bringen wollte: Als eines der ältesten Völker der Welt hätten die Juden so viele falsche Lehren weitergegeben, dass es ihm nicht mehr möglich sei, alle Fehler auf einmal zu berücksichtigen. Auch hätten Verfolgungen das Volk nicht geläutert. Von Chaldäern, Persern, Griechen und Christen verfolgt, stets davon bedroht, dass ihre Bücher verbrannt und sie selbst ausgerottet würden, hätten sie einzig und alleine im Herrschaftsbereich des Islam Zuflucht und Schutz ge­funden. Anstatt alles zu tun, die Bürde der Weisung zu lockern, hätten sie mit einer Verschär­fung der 'I'ora durch die rabbinischen Auslegungen ihr tägliches Leben weiter erschwert. Sa­mawal kritisiert die Kaschruth, die zwar für das Überleben des jüdischen Volkes im Exil not­wendig war, aber dafür zum Aufkündigen des Kontaktes mit Nichtjuden führte - ein innerjüdischer Konflikt, der sich in der Auseinandersetzung zwischen Karäern und Rabbinen, die Samawal denunziatorisch karikiert, niederschlug.

Maimonides, der selbst, um sein Leben zu retten, einmal zum Schein konvertierte, setzte sich in einem Brief mit Samawals Vorwürfen auseinander und widerlegte vor allem die Be­hauptungen, dass Mohammed im Tenach vorhergesagt worden sei mit dem schlüssigen Hin­weis, dass noch nicht einmal die Muslime diese Behauptung aufstellten. Ganz im Sinn der rabbinischen Tradition beglaubigt Maimonides, dass Gottes Offenbarung am Sinai von Gcne­ration zu Generation getreu weitergegeben worden sei und die Tora eindeutig für Isaak und eben nicht für lsmael Partei genommen habe. Auch in diesen Auseinandersetzungen werden wir wieder Zeugen einer Auseinandersetzung nicht um das Prinzip der Tora, sondern um die historisch konkrete Form, die sie jeweils angenommen hat. Maimonides hat sich in seinem Sendschreiben an die jemenitischen Juden polemischer Bemerkungen nicht eben enthalten - in einem aber war er sich mit seinem Gegner im Grundsatz einig, nämlich darin, dass man sich Gott in keiner Weise anthropomorph vorstellen dürfe, eine Ansicht, die vor dem Hintergrund der damals allgemein anerkannten aristotelischen Philosophie verständlich ist, aber weder mit Dem Text des Tenakh noch dein des Qur'an übereinstimmt. Beide bestimmen Gott als barm­herzigen Gott, eine Eigenschaft, die mit dem unbewegten Beweger des Aristoteles nichts zu tun hat.

Das jüdische Bild vom Islam - Jehuda Halevis "Kusari"

Man muss also nicht immer wieder das goldene Zeitalter in Spanien beschwören, um sich zu verdeutlichen, dass Judentum und Islam einander systematisch nicht auschließen, was man etwa an dem religionsphilosophischen Traktat des 1080 geborenen spanisch-jüdischen Dichters Jehuda Halevi sehen kann, der in seinem Traktat "Kusari", (23) indem es um einen Glaubenswettstreit von Christen, Muslimen und Juden um die Konversion eines Khazarenkönigs (24) geht, eine Selbstdarstellung des Islam zu Wort kommen lässt, die fair und objektiv erscheint. Der islamische Gelehrte stellt seinen Glauben in diesem Traktat eines jüdischen Religionsphilosophen folgendermaßen dar:

"Wir bekennen die Einheit und Ewigkeit Gottes und dass alle Menschen von Adam und Noah abstammen. Wir lehnen jede Inkarnationslehre entschieden ab und wenn derlei in der Schrift auftaucht, erklären wir es für eine Metapher oder Allegorie. Gleichzeitig behaupten wird, dass unser Buch Gottes Wort ist, ein Wunder, an das wir um seiner selbst willen gebunden sind, da niemand in der Lage, ist, etwas ähnliches hinzufügen, oder sei­ne Verse zu übertönen. Unser Prophet ist das Siegel der Propheten, der jedwedes vorhe­rige Gesetze abschaffte, und alle Nationen einlud, zum Islam überzutreten. Der Lohn des Frommen besteht in der Rückkehr seines Leibes in Paradies und Glanz, wo er nie­mals aufhören wird, zu trinken, zu essen und die Liebe einer Frau zu genießen, und alles zu erhalten, was er begehrt. Die Quittung des Ungehorsamen besteht darin, dem Höl­lenfeuer ausgesetzt zu werden und eine Strafe ohne Ende zu erleiden" (25)

Auf diese Antwort entgegnet der khazarische König in Halevis Traktat, dass er nur allgemein Fakten akzeptiere, die nicht widerlegbar seien und er als Khazare das Wunder des Qur'ans, da er nicht des Arabischen mächtig sei, nicht überprüfen könne. Darauf antwortet der islamische Gelehrte, dass im Islam an keiner Stelle irgendwelche Wunder für die Gültigkeit der qur'anischen Weisung bemüht würden, woraufhin der Khazarenkönig in rationalistischem Zweifel an der Vorstellung einer direkten Interaktion zwischen Gott und Mensch zweifelt. Auf diesen Einwand lässt Halevi den islamischen Gelehrten mit einer Frage antworten:

"Ist unser Buch nicht voll mit Geschichten von Moses und den Kindern Israel. Nie­mand kann bestreiten, was der Pharao zugefügt hat, wie er das Meer teilte ....ist all dies nicht so wohl bekannt, dass kein Misstrauen über Täuschung und Einbildung möglich sind?" (26)

Der Khazarenkcinig gibt dem von einem jüdischen Autor skizzierten Moslem recht und er­klärt, nunmehr die Juden zu fragen, seien sie doch das Uberbleibsel der Israeliten und seiner Meinung nach der schlagende, evidente Beweis für die Geltung der göttlichen Weisung auf der Erde. (27)

Halevis Argument der Juden als eines Gottesbeweises hat bis in die Aufklärungszeit hinein gewirkt, aber darum kann es hier nicht gehen. Worauf Halevi hinweisen will, ist, dass der Qur'an gleichsam in sich zusammenfallen würde, wenn man das Zeugnis Israels, das eben nur in der Tora des Judentums enthalten ist, aus ihm entfernte. Anders als im Christentum hat im Islam auch niemand, soweit ich sehe, jemals versucht, dies zu tun und sich einen Islam zu­sammenzureimen, der ohne Bezug zur alttestamentlichen Überlieferung auskommt. Der Islam setzt die Wahrheit der Tora in demselben Atemzug voraus, indem er sie bestreitet. Dass sich dabei Ungereimtheiten ergeben müssen, hatte schon Maimonides in seiner Auseinanderset­zung mit Samawal und dessen Ableitung des Propheten aus alttestamentlichen Versen gezeigt - über ein Kriterium, am Text zu unterscheiden, was echt und was falsch ist, verfügt der Qur'an jedoch nicht. Er löst dieses Problem, indem er den Qur'an selbst als absolut wahres göttliches Wort postuliert, handelt sich damit freilich ein weiteres Problem ein: sogar wenn man annimmt, dass Gott den Qur'an in seine spezifische Zeit hinein offenbart hat, muss man -wie oben bemerkt - entweder annehmen, dass er sich eben geirrt hat oder dass die von ihm auf arabisch gegebene wahre Tora nicht mit dem Wortlaut des Buches identisch ist, dlas der Islam als Qur'an ebenso verehrt wie die Juden die Tora.

Wäre es tatsächlich gotteslästerlich, den Geist von Tora Lind Qur'an von der Fähigkeit end­licher Menschen, diesen Geist zu empfangen und niederzuschreiben, zu unterscheiden? In Su­re 13. "Der Donner" lese ich in Vers 39: "Allah löscht aus und bestätigt, was er will, und bei ihm ist die Mutter der Schrift."

 

(Brumlik, Micha: Überlegungen zu einem künftigen jüdisch-islamischen  Dialog, ebd., S. 83-91)

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