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Was die Schriftquellen verraten

Für den Zeitraum zwischen dem 2. vorchristlichen Jahrtau­send bis zum Ende der Han-Dynastie ist die Quellenlage zu den Völkern und Ethnien sowie ihrer Wanderungsgeschichte längst nicht so ausführlich dokumentiert wie für die nachfol­genden Perioden. Die schriftlichen Nachrichten für diesen Zeitraum bestehen hauptsächlich aus zwei voneinander ge­trennten Überlieferungssträngen: so zum einen aus westlich-­klassischen Quellen, zum anderen aus östlichen, vor allem chi­nesischen Geschichtsquellen.
Zierblech mit Löwendekor (Kat.-Nr. 168); ibid., S. 52.
Zierblech mit Löwendekor (Kat.-Nr. 168); ibid., S. 52.
Für die beiden vorchristlichen Jahrtausende sind beide Überlieferungsstränge wenig ergiebig. Ist es im mediterranen Raum im 5. Jh. v. Chr. vor allem der „Vater der Geschichtsschreibung“; nämlich Herodot, der aus dem ihm zu seiner Zeit zur Verfügung stehenden schriftli­chen Material seine „Historien" zusammenstellte, so ist es im Osten, in China, erst die Han-Dynastie seit dem 3. vor­christlichen Jahrhundert, die auch Nachrichten darüber liefert, was sich ganz im Westen des chinesischen Einflussbereiches und darüber hinaus nach Westen ereignet hat. Wesentlich be­reichert werden die klassisch-antiken Kenntnisse zum zen­tralasiatischen Raum erst mit und nach Alexander dem Gro­ßen, seit dem 4. Jh. v Chr., der sein Reich bis an den Indus aus­weitete, ja im Norden bis in den westturkistanisch-ostpersi­schen Kulturraum vorstieß. Die Eroberungen Alexanders des Großen und der sich daraus ergebende intensive kulturelle Austausch zwischen Griechen, Makedonen und Orientalen sollte über Jahrhunderte hinweg Asien zutiefst kulturge­schichtlich verändern. Trotz der gewaltigen Ausdehnung des Alexanderreiches bis fast an das Tarim-Becken abschlie­ßende Karakorum-Gebirge ist es offensichtlich nicht zu einer Erwähnung desselben in den chinesischen Quellen gekom­men. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das Fehlen von Kenntnissen in China zur Machtausdehnung Griechenlands bis an den Rand der chinesischen Ökumene vor allem da­durch zu erklären, dass China vor der Reichseinigung im 3. Jh. v. Chr. unter dem ersten Kaiser Qin Shi Huangdi  ein Konglomerat von Kleinstaaten und Fürstentümern gewesen ist, welches sich kaum für die Peripherie interessierte, wenn von dort keine akute Bedrohung ausging. Erst die Reichsei­nigung unter der kurzlebigen Qin-Dynastie sowie der nach­folgenden, massiv erstarkenden Han-Dynastie und die daraus erwachsende Konsolidierung Chinas führten zum Interesse Chinas an dem, was sich im Westen abspielte. Die Gründe für dieses Interesse lagen wiederum in außenpolitisch auf China einwirkendem Druck, waren doch nördlich und nordwestlich von China wohnende Reiternomaden, die Xiongnu, zu einer beständigen Bedrohung des neuen Einheitsstaates geworden. Nicht umsonst hatte schon QIN SHI HUNAGDI mit ersten größeren Ausbaumaßnahmen von Mauer- und Wallsystemen aus Stampflehm und Holz versucht, das Reich gegen diese Reiternomaden zu sichern. Die Kampfesweise der berittenen Xiongnu mit ihrer gefürchteten Waffe, dem Reflexbogen, die man durch Tribute und Verträge ruhig zu stellen versuchte, führte unter dem Han-Kaiser WU im 2. Jh. v. Chr, zu der Erkenntnis, dass nur eine den Xiongnu ähnlich ausgestattete und operierende Kavallerie Abhilfe von der Bedrohung schaf­fen könne. Als Grundlage hierfür entsandte Wu im Jahre 139 v Chr. seinen damals erst 25 Jahre alten Gesandten ZHANG Qian nach Westen. Er erreichte auf dieser Expeditionsreise das Gebiet des oberen Amudarya in Westturkistan, konnte aber, da er mehrfach von den Xiongnu festgehalten wurde, erst 126 v. Chr. in die Hauptstadt Changán (das heutige Xi'an) zurückkehren. Das angestrebte Bündnis mit anderen No­maden im Westen, gegen die Xiongnu gerichtet, sowie der Erwerb der berühmten „blutschwitzenden Pferde" dieser Rei­ternomaden aus dem Ferghana-Becken, die man zum Aufbau eigener Militärgestüte gebraucht hätte, schlug zwar fehl, ver­schaffte den Chinesen aber erste eingehende Kenntnisse jener Gebiete, die westlich Chinas lagen. So gelangte auch erstmals Wissen über die Persien beherrschenden Parther und die Völker der westlich des Tarim-Beckens siedelnden Ethnien nach China, aber ebenfalls, wenn auch noch sehr verschwom­men, über das Römische Reich. Grundsätzlich bieten seit der Han-Dynastie die am Hofe ausgefertigten Jahresberichte oder Annalen vielfältige Zeugnisse zu Völkern, Etlinien und Lebensgewohnheiten westlicher Nicht-Chinesen.

Die unter Kaiser Wu begonnenen Militärexpeditionen in Richtung Westen, also in Richtung Tarim-Becken, dienten dem Erwerb von Kavalleriepferden für den Ausbau eigener berittener Einheiten, weshalb in jener frühen Phase statt des Begriffes Seidenstraße eher jener einer „Pferdestraße" ge­rechtfertigt erscheint. Aber spätestens zur frühen römischen Kaiserzeit tragen diese Handelsstraßen, die in der chinesi­schen Hauptstadt Chang'an begannen und bis Antiochia in Syrien reichten, ihren Namen zu Recht, berichten doch schon die römischen Quellen von einem angeblich übertriebenen Luxus mit Seidenstoffen bei den Damen der römischen Aris­tokratie. Zu dieser Zeit war die Art und Weise der Seiden­produktion für den römisch-griechischen Westen noch ein ungelöstes Geheimnis, welches erst einige Jahrhunderte spä­ter, außerhalb unseres Betrachtungsrahmens liegend, durch Wirtschaftsspionage gelöst werden sollte.

Das große Problem der antiken westlichen Quellen ist ihr geo­grafisch weiter Abstand zu den ehemals vorhandenen Völ­kern; vieles kannte man nur vom Hörensagen oder über mehrfach auch sprachlich veränderte Vermittlung von Fern­händlern. Völkernamen sind daher nur bedingt auf kleinere und größere Gebiete einzugrenzen. Nicht viel anders verhält es sich mit den frühen chinesischen Quellen, zumal diese heute zwar noch über die gleichen oder zumindest ähnliche Schriftzeichen gelesen werden, ihre Lautung aber über die letzten zwei Jahrtausende hinweg eine heute nur teilweise nachvollziehbare Veränderung erfahren hat.

(ibid., S. 51-53)

Konrad Theiss Verlag