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Die Gesellschaft der Oper - Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert

In der Mitte der Gesellschaft

Bd. 1: Philipp Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815-1914

Die Operntheater waren im 19. Jahrhundert politische und soziale Treffpunkte, Orte der Hochkultur und der Massenunterhaltung sowie der Konstruktion von Nationalkulturen. Philipp Ther untersucht exemplarisch drei Typen von Operntheatern: die höfische Semperoper in Dresden, das adelig geprägte Polnische Theater in Lemberg und das bürgerliche Tschechische Nationaltheater in Prag.
Diese drei Opernhäuser waren von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der deutschen, polnischen und tschechischen Oper. Ebenen des Vergleichs sind die soziale Funktion und Organisation der Häuser, ihr Publikum, ihre soziale Reichweite, ihre Repertoires und Aufführungspraxis. Thers Studie kombiniert Methoden des historischen Vergleichs mit dem Ansatz des Kulturtransfers und verbindet Sozial-, Kultur- und Musikgeschichte.

Autor

Philipp Ther

Professor for 20th Century European History, Department of History and Civilisation, European University Institute, Firenze

Aus dem Inhalt:

III. Das Hoftheater in Dresden

1. Organisation und Machtstrukturen des Hoftheaters

Sachsen als Kulturstaat

Es ist ein alter Traum der Menschheit, einmal eine Zeitreise antreten zu können. Wären die Menschen in Dresden 1815 hundert Jahre in die Zukunft gereist, hätten sie ihre Stadt abgesehen von einigen Wahrzeichen wohl kaum wiedererkannt. Sie hätten sich im kilometerlangen Vorstädten verirrt, in einer nie erlebten Masse an Menschen verloren und nicht einmal das Theater wiedergefunden, das in diesen hundert Jahren gleich zwei Mal neu erbaut wurde. Die Einwohnerstatistik gibt den stürmischen Wandel auf einen Blick wieder. Die sächsische Residenzstadt hatte 1805 gut 50.000 Einwohner, hundert Jahre später waren es über eine halbe Million. Während die Menschen in der napoleonischen Ära noch auf kleinstem Raum innerhalb der Festungsmauern und einiger daran angrenzender Vorstädte lebten, zog sich das Dresden der Jahrhundertwende bis weit ins Elbtal und in das angrenzende Umland hinein.

Auch die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung änderte sich völlig. Dresden war bis weit in den Vormärz hinein eine höfisch geprägte Beamtenstadt mit einem Adelsanteil von zeitweise über zehn Prozent. Am Ende des Jahrhunderts hingegen war Dresden ein boomender Industriestandort und überholte sogar die alte Rivalin Leipzig an Einwohnern. Allerdings spürte man dies im Zentrum der Stadt weit weniger als in den Vororten. Dort dominierte optisch das architektonische Ensemble vom Zwinger bis zu den Brühlschen Terrassen, in dessen Mitte die Semperoper stand. Auf dieser Prachtmeile flanierten am Feierabend und am Wochenende die Bürger der Stadt, darunter auch Arbeiter in ihrem Sonntagsstaat. Aufgrund des vermehrten Wohlstands und des Bevölkerungswachstums entstanden andere und bessere Existenzbedingungen für die Oper.

Abb. 2: Das Hoftheater in Dresden von 1878, ebd., S. 96
Abb. 2: Das Hoftheater in Dresden von 1878, ebd., S. 96

Bei der Eröffnung des ersten Sempertheaters im Jahre 1841 betrug die Zahl der potentiellen Zuschauer, die man mit etwa zehn Prozent der Bevölkerung zuzüglich des Hofstaats ansetzen kann, nicht mehr als 10.000 Menschen. Dieses Publikum reichte kaum aus, ein Theater mit 2.000 Plätzen regelmäßig zu füllen. Für eine gute Auslastung mussten viele Bürger mehrmals pro Woche das Theater besuchen, was fesselnde Premieren, Gastspiele und andere Attraktionen voraussetzte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mangelte es dagegen nicht mehr an Zuschauern. Das Publikum war so weit angewachsen, das mehrere Spielstätten davon lebten, die seit der Éinführung der Gewerbefreiheit im Jahr 1863 den Betrieb aufgenommen hatten. Auch die Bedeutung des Hofs veränderte sich im Laufe des Jahrhunderts von 1815 bis 1914 erheblich. Im Vormärz nahm er eine zentrale Position im gesellschaftlichen und plitischen Leben Dresdens ein, wogegen sich die prunkvolle Hofhaltung am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf einige Gemächer der Residenz und wenige offizielle Anlässe beschränkte.

Eine der Fragen der Fallstudie über das Dresdner Hoftheater ist, wie sich dieser rapide Wandel auf dessen Organisation und Funktion auswirkten. Konnten der Hof und der König ihren starken Einfluss auf das Bühnenleben wahren, den sie im Vormärz besaßen? Inwieweit beeinflusste der Drang der kulturellen Akteure zu mehr Autonomie vom Hof die inneren Verhältnisse am Hoftheater, und wie wirkte sich dies auf dessen kulturelle Produktivität aus? Ein weiteres Themenfeld ist die Nationalisierung der Oper, die sich auf der Ebene der Gesangssprache, des Repertoires und der Inhalte von Opern nachweisen lässt. Hierbei war Dresden innerhalb der deutschen Länder ein Vorreiter, was unter anderem am Einfluss von Richard Wagner als Kapellmeister lag. Das dritte Kapitel befasst sich schließlich mit einer kulturell besonders produktiven Periode des Dresdner Hoftheaters, das an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit etlichen Uraufführungen europäische Kultur- und Operngeschichte machte. (..)

(Auszug aus Kapitel III : Das Hoftheater in Dresden. 1. Organisation und Machtstrukturen des Hoftheaters. Sachsen als Kulturstaat, ebd., S. 96-99)

 

Oldenbourg Wissenschaftsverlag

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