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Einleitung

"Neben den schriftlichen Überlieferungen aus dem Alterthum, unmittelbarer oder mittelbarer Art, mögen diese auf' Papier, Pergament, Stein, Thon, Holz, Elfenbein, Erz, überhaupt Metallen, oder sonst irgend wie erhalten sein, mögen sie das grosse Literaturwerk oder die nackte Sammlernotiz oder den Zauber- oder Kinderspruch, die offiziellen Akte irgend einer Genossenschaf't oder den Willen oder nur den Namen eines Todten, eines Besitzers, Fabrikanten u. dgl. oder eine Notiz im Verkehrsleben uns vorführen, steht eine andere Klasse von Denkmälern, die nicht durch das Medium der Sprache und Schrift zu uns reden, sondern durch die örtliche Fixierung; ihre chemische Beschaffenheit, ihr Gewicht. ihre Farbe, ihre Form. "

Carl Bernhard Stark, Systematik und Geschichte der Archäologie der Kunst (1880) 4f.

Klassische Altertumswissenschaften

Jede Archäologie gleich welcher Fachrichtung versucht, die Lebens- und Geisteswelt ei­ner vergangenen Kultur in allen ihren Bereichen zu rekonstruieren. Dabei bieten die geschichtlichen Perioden, die sich per definitionem durch ihr Schrifttum von den vorge­schichtlichen absetzen, den entscheidenden Vorteil, dass zu ihrer Erschließung auch auf schriftliche Zeugnisse zurückgegriffen werden kann. Für die erhaltenen materiellen und schriftlichen Zeugnisse aus der Antike, der Kultur der Griechen und Römer, ist seit der Renaissance die Klassische Altertumswissensehaft zuständig, in der zunächst die Klassische Philologie eine leitende Funktion übernommen und die Forschungsinhalte bestimmt hat. Die Klassische Archäologie, die sich mit der gesamten materiellen Hinterlassenschaft der Antike beschäftigt, hat sich erst kurz vor der Mitte des 19. Jhs. als eigenständige Disziplin von ihr getrennt.

Beide Disziplinen haben also die gleichen Wurzeln und eine vergleichbare Zielsetzung und ergänzen sich bei einer umfassenden Behandlung eines Gegenstandes bzw. einer Fragestellung aus den Bereichen Kunst oder Technik, Kult oder Staats- und Privatalter­tümer gegenseitig. So ist die Klassische Philologie z.B. für das Verständnis der Produk­tions- und Rezeptionsbedingungen des antiken Dramas auf die archäologischen Erkennt­nisse zur Entwicklung der antiken Theaterbauten angewiesen und kann ohne die Hilfe der Klassischen Archäologie weder die Bildbeschreibungen in der antiken Literatur noch die zahlreichen Epigramme auf Kunstwerke oder Künstler verstehen. Umgekehrt ist eine genaue Kenntnis antiker Texte für die Klassische Archäologie aus mehreren Gründen essentiell. Auf der Grundlage von Texten, die eine Beschreibung antiker Landschaften und Städte, ihrer Heiligtümer und ihrer Weihungen liefern, lassen sieh vielfach Aufstel­lungsorte von Monumenten ermitteln, die nicht in situ oder in Form von Kopien erhalten sind. Vor allem mit Hilfe der Beschreibungen des Reiseschriftstellers Pausanias (2. Jh. n. Chr.) gelingt es z.B., sich ein Bild von den vielen bedeutenden Skulpturen zu machen, die die Akropolis von Athen seit dem 5. Jh. v. Chr. schmückten. Als  Beispiele aus der Ausstel­lung seien das Chariten-Relief (Kat. 4.1.), die Athena Lemnia (Kat. 6.1.), der Anakreon (Kat. 6.3.), der Hermes Propylaios (Kat. 7.1.) und der Perikles (Kat. 8.1.) genannt.

6.1. Athen, Akropolis: Statue der Athena

Kopie in Bologna
Kopie in Bologna
Marmorkopie: Dresden, Skulpturensammlung, Herrmann Nr. 49; ehemals Rom, Sammlung Albani. - Höhe 1,98 m (Sohle-Scheitel, mit ergänzter Kalotte); Kopfhöhe 25 cm. - Datierung: um die Mitte des 1 Jhs. n. Chr; Abb. ebd., S. 28
Gelegentlich kann die Beschäftigung mit antiken Texten auch für die Rekonstruktion be­stimmter Monumente von Nutzen sein: allein anhand der üherlieferten zahlreichen Wie­derholungen der Athena Parthenos (Kat. 6.2.) wüssten wir z.B. nicht, dass ihre Sandalen mit Reliefs geschmückt waren. Dies geht aber aus einer Passage in der Naturkunde des Plinius (Kat. 6.2.3.) hervor. Einige Schriftzeugnisse bieten außerdem die Möglichkeit, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie antike Bildwerke bald oder lange Zeit nach ih­rer Aufstellung auf den Betrachter gewirkt haben. Ein eindrückliches, auch vom Umfang her bemerkenswertes Beispiel hierfür sind die Ausführungen des Kallistratos zur Mänade des Skopas (Kat. 12.1.5.).

Michelangelo und Giuliano da Sangallo

Maßgeblich sind antike Texte vor allem für die Zuweisung von erhaltenen Statuen oder, wichtiger noch, von Kopien oder Fragmenten solcher Statuen an bestimmte Bildhauer. Ohne die kunstkritischen und kunstgeschichtlichen Bemerkungen in der Literatur der Antike wären wir gezwungen, uns bei der Beurteilung antiker Skulpturen und Statu­enkopien ausschließlich auf formal-ästhetische Beobachtungen und Analysen zu stützen. Schon 1506 gelang es aber den bei der Wiederauffindung des Laokoon (inv. 2/57) herbei­gerufenen gebildeten Kunstkennern, Michelangelo und Giuliano da Sangallo, die Skulp­turengruppe sofort zu benennen, weil sie sich an die Textstelle bei Plinius erinnerten (SO 2031). Auch der 1545 gefundene "Farnesische Stier" (inv. 83/16) konnte noch im 16. Jh. mit der bei Plinius erwähnten Gruppe (SO 2038) identifiziert werden, welche die Bestra­fung der Dirke zum Inhalt hat.

Johann Joachim Winckelmann

Von den in der Austellung präsentierten Skulpturen wurde als nächste, allerdings erst 1756, der Apollon Sauroktonos mit der von Plinius erwähnten Statue von der Hand des Praxiteles (Kat. 13.1.) identifiziert, und zwar von Johann Joachim Winekelmann, der sich eine Erkenntnis des Gemmensammlers Baron von Stosch aus dem Jahr 1724 zu Nutze machte. Im Zeitalter Winekelmanns begann die antike Skulptur, anders als zuvor in der Epoche der vorwiegend antiquarisch ausgerichteten Altertumsforschung, in den Mittel­punkt des Interesses an der Kunst der Antike zu rücken. Mit ihrem Modellcharakter für die Hofbildhauer sowie als repräsentative Ausstattung der fürstlichen Schlösser und Vorzeigeobjekt der ersten museumsartigen Sammlungen avancierte sie zur sog. Königs­gattung innerhalb der antiken Kunst. Dies war nicht allein dem hohen Ethos der oft he­roischen oder historischen bzw. imperialen Sujets geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass die Skulptur wegen ihrer komplexen und differenzierten Formensprache am ehesten als künstlerischer Ausdruck der klassischen Epoche verstanden wurde und darüberhi­naus auch noch einen Hauch der antiken Künstlerpersönlichkeit lind ihrer Intentionen verspüren ließ. Die im 15. Jh. einsetzende und rasch zunehmende Verbreitung der anti­ken Literatur durch gedruckte Editionen förderte das Bestreben, bedeutende Skulpturen mit den bekanntesten Bildhauernamen aus der antiken Literatur zu verknüpfen. Dieses Interesse an großen Namen hat seinen Ursprung in der Antike: prominentes Beispiel sind die kolossalen Dioskuren auf dem Ouirinal (inv. 07/4-5), die man in der Spätantike durch die Anhringung von Inschriften als Werke des Phidias und des Praxiteles auszuwei­sen versucht hat.

13.1. Aufstellungsort unbekannt: Bronzestatue des Apollon mit einer Eidechse (sog. Apollon Sauroktonos)

Kopie: Paris, Louvre, Inv. Ma 441. - Höhe 1,49 m (Sohle-Scheitel); Kopfhöhe 21 cm. Thasischer Marmor;  Ergänzungen: rechte Hand samt einem Drittel des Unterarms, linke Hand mit großen Teilen von Arm, Penis, Kleinigkeiten . - Fundort: wohl Rom oder Umgebung. Datierung: 1. Jh. n. Chr., wohl claudisch, Abb. ebd., S. 90

Giambattista Visconti

Winckelmanns Nachfolger im Amt des päpstlichen Oberaufsehers aller Altertümer in und um Rom, Giambattista Visconti, wird die Erkenntnis verdankt, dass der berühmte, unter anderem von Plinius erwähnte Diskobol des Myron (Kat. 5.1.) in Kopien erhalten ist; Viscontis Sohn Ennio Ouirino Visconti verband wenige Jahre später, 1790, als erster die Adaption der Tyche von Antiochia im Vatikan (Kat. 17.1.) mit der Statue, die Pausa­nias dem Bronzegießer Eutychides zuweist; vor allem im dritten Viertel des 18. Jhs. war dann eine relativ große Zahl von Identifizierungsversuchen von anhaltendem Erfolg ge­krönt: Emil Braun identifiziert 1850 den Apoxyomenos des Lysipp (Kat. 14.1.), Heinrich Brunn 1853 den Marsyas aus der Athena-Marsyas-Gruppe des Myron (Kat. 5.2.) und 1867 die Eirene des Kephisodot (Kat. 11.1.), Karl Friederichs 1859 die "Tyrannenmörder" des Kritios und Nesiotes (Kat. 3.1.) und 1863 den Doryphoros des Polyklet (Kat. 9.2.), Adolf Michaelis 1879 den Diadumenos (Kat. 9.4.).

Heinrich Brunn

Heinrich Brunn, der weitgehend auf antike Textquellen gestützt und ohne jede Abbildung im Jahr 1853 eine "Geschichte der griechischen Künstler" vorgelegt hat, verdankt die For­schung entscheidende Impulse für eine vorwiegend stilkritische Betrachtung der antiken Plastik. Sein Schüler Adolf Furtwängler führte diesen Forschungszweig mit der maßstabsetzenden Veröffentlichung "Meisterwerke der griechischen Plastik" (1893) zu einem frühen Höhepunkt, indem er nahezu alle damals bekannten Kopien griechischer Originale des 5. und 4. Jhs. v. Chr. durch stilkritische Analysen dem OEuvre einzelner Bildhauer zu­wies. Kaum vorstellbar ist Furtwänglers epochales Werk ohne die zahlreichen Vorarbei­ten, unter anderem diejenige von Johannes Overbeck, der sich in den 1860er Jahren ent­schloss, alle literarischen und epigraphischen Zeugnisse zur antiken Kunst zu sammeln, zu ordnen und in einem Corpus zu edieren. Die 1868 erschienene Publikation "Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen" präsentiert auf 475 Seiten knapp 2500 Texte, die heute um ca. 500 literarische und ca. 1300 inschriftliche Be­lege ergänzt werden können. Von diesen rund 4300 Testimonien zu bildenden Künstlern entfallen ca. 2000 literarische und ca. 1500 epigraphische Belege auf Bildhauer. Während für die Bildhauer der archaischen und klassischen Zeit die literarischen gegenüber den epigraphischen Zeugnissen überwiegen, kehrt sich das Verhältnis im Hellenismus um.

Anti­ke und byzantinische Literatur

Nachrichten über griechische Bildhauer finden sich in beinahe allen Gattungen der anti­ken und byzantinischen Literatur - in poetischen und prosaischen Texten, bei bekannten und entlegenen Autoren. Das Spektrum der Texte reicht von Fachschriftstellern wie Plinius, Strabon und Ouintilian oder einem Perihegeten wie Pausanias über Dichter wie Herondas oder die zahlreichen Epigrammatiker der Amthologua Graeca bzw. im rö­mischen Bereich Martial und Ausonius, Philosophen wie Platon und Aristoteles, Redner wie Demosthenes, Cicero, Dion von Prusa und Aelius Aristides, Geschichtsschreiber wie Thukydides, Diodor, Zosimos und Malalas sowie Biographen wie Plutarch und Diogenes Laertios bis hin zu Schollen und Lexika. Auch der chronologische Umfang der Quellen aus zwei Jahrtausenden ist enorm und reicht von den homerischen Epen, in denen bereits mythische Künstler erwähnt werden, bis hin zu einem byzantinischen Gelehrten wie Jo­hannes Tzetzes, der in einigen Kapiteln seiner Chiliades auf die berühmten Bildhauer des 5. und 4. Jhs. v. Chr. wie Myron, Phidias, Polyklet und Lysipp eingeht.

Obwohl die Testimonien zu Bildhauern weit über die gesamte Literatur verstreut sind, konzentriert sich die Vielzahl der Erwähnungen doch auf zwei Werke des 1. und 2. Jhs. n. Chr.: die Naturalis historia  (Naturkunde) des Plinius d. Ä. (23/24-79 n. Chr.) und die Perihegese (Reisebeschreibung) des Pausanias (ca. 115 - ca. 180 n. Chr.)

(...)

 

(ebd., Einleitung, S. VI-VIII)