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Absurde Bildwelt und Gesellschaftskritik in J.J. Grandvilles " Un autre monde"

Thomas W. Gaehtgens

Es ist immer wieder eine verwunderliche Tatsache, daß wir trotz der so fleißig wirkenden Kunstgeschichte über manches Meisterwerk so wenig wissen. J.J. Grandvilles Un autre monde ist ein schönes Beispiel für diese Tatsache. Eine ausführliche monographische Studie über dieses Buch gib es nicht. Nur wenige Beiträge widmeten sich einzelnen Aspekten dieses Werkes.(1) Eine kunsthistorische Analyse und eine Einordnung in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang bleibt somit eine wichtige Aufgabe.

Un autre monde ist ein illustriertes Buch, das im Jahre 1843-44 im Verlag H. Fournier in Paris erschien (Abb.1).(2) Die Entstehungsgeschichte war mit allerlei Abenteuern verbunden. Grandville mußte für sein Werk den Verlag wechseln. Empört hatte er seinem langjährigen, zum Freund gewordenen Verleger Hetzel 1842 vorgeworfen, mit dem von diesem herausgegebenen Werk Voyage où il vous plaira seine Idee gestohlen und mit anderen Autoren verwirklicht zu haben. Es folgte eine heftige Auseinandersetzung bis zur Androhung eines Duells, dem Grandville nur durch eine umständliche Entschuldigung zu entgehen vermochte.(3)

1. J.J. Grandville, Un autre monde, Titelblatt; ebd., S. 82
1. J.J. Grandville, Un autre monde, Titelblatt; ebd., S. 82
Aber auch andere Umstände machen dieses Werk zu einem merkwürdigen Unternehmen. Im Titel ist der Zeichner Grandville als Autor angegeben. Aber wer war der Verfasser des Textes? Und vor allem, wie soll man die rätselhaften, fremdartigen, irritierenden Bilder und den kryptischen Kommentar verstehen, die sich so ganz jeder rationalen Betrachtung und Lektüre entgegenstellen? Das Buch beginnt mit einem ganzseitigen Frontispiz (Abb.2). Dargestellt ist ein ungleiches Paar: ein den Betrachter anlachender Zeichner, der Federn und Zeichenstifte über der Schulter trägt und mit einer Narrenkappe bekleidet ist. Auf ihr finden sich die Worte: La charge, womit er als Karikaturist ausgewiesen ist. Die junge, festlich gekleidete Dame ist auf ihrem Kleid als Phantasie bezeichnet.(4) Das Paar steht auf einer kleinen Insel, wobei der Karikaturist mit dem rechten Fuß die Erdkugel mit der Aufschrift Ancien monde in den Boden drückt, wobei sie zerspringt. Die junge Dame an seiner Seite hingegen hält eine Art Zauberstab über einer Kugel mit der Aufschrift Un autre monde, die sich aus dem Boden erhebt und auf der einige kleine, fremdartige Gestalten stehen. Als eine Art phantastischer Zodiacus wird das Paar von merkwürdigen Figuren im Halbkreis hinterfangen. Die Aussage des Frontispizes ist deutlich erkennbar: eine andere Welt wird geschaffen, die der Karikaturist mit Hilfe der Phantasie in seinem Werk vorstellen wird.
2. J.J. Grandville, Un autre monde, Frontispiz; ebd., S. 83
2. J.J. Grandville, Un autre monde, Frontispiz; ebd., S. 83

Bereits die Zeitgenossen nahmen das Buch sowohl befremdet wie fasziniert zur Kenntnis. Der ausschweifende Untertitel in der französischen Ausgabe macht deutlich, daß der Leser des Textes und der Betrachter der Bilder sich auf allerlei kuriose Theorien gefaßt machen muß. Er lautet: Transformations, Visions, Incarnations, Ascensions, Locomotions, Explorations, Pérégrinations, Excursions, Stations - Cosmogonies, Fantasmagories, Rêveries, Folatreries, Facéties, Luries - Métamorphoses, Zoomorphoses, Lithomorphoses, Métempsycoses, Apothéoses et autres Choses par Grandville. Schon in dieser Aufzählung deutet sich an, daß provoziert werden soll. Wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche, religiöse und sektierische Welterklärungen wird das Buch enthalten. Die seltsamsten Theorien bilden diese "Andere Welt", in die uns der Autor einzuführen sucht. Das Titelblatt nennt nur den Illustrator, verschweigt jedoch den Autor des Textes. Diese Umkehrung der üblichen Angaben enthält den Hinweis, daß der Erfinder der Bilder den maßgeblichen Anteil an diesem Werk hatte. Es wird allgemein vermutet, daß Grandville bereits seit längerer Zeit gezeichnete Vorlagen zu diesem Buch zusammenfaßte, für das er einen Text benötigte. Gelegentlich wurde behaptet, Grandville habe auch den Text geschrieben.(5) Das war aber durchaus nicht der Fall. Bereits der am 19. Dezember 1842 mit Fournier unterzeichnete Vertrag attestiert die Gemeinschaftsarbeit:"Le texte sera rédigé d'après vos notes par un littérateur dont le travail restera à ma charge.(6) Der Name des Autors, T. Delord, ist erst auf der letzten Abbildung des Buches zu erkennen (Abb.3).(7).

3. J.J. Grandville, Un autre monde, Abbildung Epilog, S. 292; ebd., S. 83
3. J.J. Grandville, Un autre monde, Abbildung Epilog, S. 292; ebd., S. 83
Das Blatt wird von zwei hohen Pfeilern beherrscht, die die Buchstaben J.J. bilden und ein großes G für Grandville einrahmen. Links und rechts des G's stehen ein Messer, ein Stichel und eine Druckfigur. Sie verweisen auf die Stecher, die die Holzstiche für den Druck umsetzen. Auf dem G balanciert grüßend der Kreidestift, der den Erfinder der Bilder repräsentiert, während auf der Plattform des G die Feder, als der Autor des Textes, ein Tuch wie bei einer Enthüllung eines Denkmals hochzieht, um unten am Boden den Namen T. Delord freizugeben. Es handelt sich um den Schriftsteller und Journalisten Taxile Delord (1815-77), der über Jahre hinweg Chefredakteur der berühmten satirischen Zeitschrift Le Charivari und säter mit Sainte-Beuve als Kritiker an der berühmten oppositionellen und liberalen Zeitung Le Siècle tätig war. Mit Grandville arbeitete er lange Zeit zusammen, und sie blieben freundschaftlich verbunden. Auch an den Texten zu Grandvilles Fleurs anmées aus den Jahren 1846-47 wirkte er später mit.

Das letzte Kaitel des Buches trägt die Überschrift Epilog und beinhaltet ein Streitgespräch zwischen dem Kreidestift und der Feder. Der Kreidestift besteht darauf, daß ihm die Erfindung des Werkes zukommt, wenn er ausruft: "J'ai inventé un monde." Und weiter "Vous m'avez aidé quelquefois dans mes découvertes, j'en conviens; mais vous n'aurez pas la prétention de me disputer la gloire de cet ouvrage. (8)

4. J.J. Grandville, Un autre monde, Les poissons d'avril, S. 66; ebd. S. 84
4. J.J. Grandville, Un autre monde, Les poissons d'avril, S. 66; ebd. S. 84
Grandville, dies geht aus diesen Zeilen hervor, war der Initiator des Werkes. Delord schrieb den Text nach den Bildern. Der Text erläutert somit die Bilder. Ironisch fragt die Feder am Schluß des Buches, ob der Kreidestift mit dem Werk wirklich zufrieden sei und beklagt das Vorherrschen des Bildes: "Votre amour-propre de père vous aveugle, mon cher ami. Vous avez voulu n'en faire qu´à votre tête, vous m'avez reléguée au second plan, vous avez bouleversé les lois fondamentales de la littérature, et vous avez manqué votre but. Vous avez cru qu'il suffisait d'avoir de l'imagination pour plaire, d'être ingénieux pour être amusant: vous vous êtes complètement trompé. Le public veut du roman (...) vous avez voulu ni incidents, ni épisodes; le dessin seul a régné (...)"(9)
5. J.J. Grandville, Un autre monde, Camail-Paletot des magasin, S. 74; ebd. S. 84
5. J.J. Grandville, Un autre monde, Camail-Paletot des magasin, S. 74; ebd. S. 84
Künstler und Schriftsteller spielen damit am Ende des Buches auf den alten Streit an, welche Gattung der anderen zu dienen habe. Das über Jahrhunderte diskutierte Ut pictura poesis-Problem wird hier erneut aufgeworfen. Die Ziele der Künste im Sinne von Horaz und Boileau, zu belehren und zu gefallen, nimmt der Zeichner für sich allein in Anspruch. Der Schriftsteller wirft ihm daraufhin vor, daß Einbildungskraft nicht ausreiche. Seine Bilder blieben "dunkel, monoton, hieroglyphisch" (10). In Un autre monde ist also alles verkehrt. Nicht ein Text wird illustriert, sondern Bilder inspirieren einen Text.
6. J.J. Grandville, Un autre monde, Les grands et les petits, S. 162; ebd., S. 84
6. J.J. Grandville, Un autre monde, Les grands et les petits, S. 162; ebd., S. 84
Im Jahre 1847 wurde das Werk in Leipzig von der Verlagsbuchhandlung Carl B. Lorck in deutscher Sprache aufgelegt, und zwar mit dem Titel: Eine Andere Welt von Plinius dem Jüngsten illustriert von J.J. Grandville. Der Hinweis auf die Historia naturalis von Plinius dem Älteren soll verdeutlichen, daß es dem "jüngsten Plinius" nicht um die Beschreibung der sichtbaren, sondern eben der anderen Welt geht. Auch diesmal ist kein Autor des Textes angegeben. Es ist uns aber gelungen, ihn zu identifizieren. Es handelt sich um den Schriftsteller, Übersetzer, Lehrer und zeitweiligen Privatsekretär Goethes, Oskar Ludwig Wolff.(11). Er folgte im wesentlichen der französischen Fassung, gestattete sich aber auch erhebliche Freiheiten, um den Text dem deutschen Publikum verständlicher zu machen.
9. J.J. Grandville, Un autre monde, Une après-midi au Jardin des Plantes, S. 111; ebd., S. 86
9. J.J. Grandville, Un autre monde, Une après-midi au Jardin des Plantes, S. 111; ebd., S. 86

Un autre monde ist in 34 Kapitel eingeteilt. Mit großem Einfallsreichtum wird dem Betrachter in verblüffenden Bildern eine verkehrte Welt vor Augen geführt. Grandville nutzte verschiedene Formen der Verfremdung, um seinen künstlerischen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. (...)

Grandvilles verkehrte Welt wird in dem hier vorliegenden Werk eindrucksvoll beschrieben.

(Auszug aus Gaehtgens, Thomas W.: Absurde Bildwelt und Gesellschaftskritik in J.J. Grandvilles Un autre monde, ebd., S. 81-85) 

 

Brepols Publishers

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