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Wurzeln und Entwicklung des Mythos des Narziß

Der Narzißmythos in der Antike

1. Die antiken Quellen für den Narzißmythos

Eine einzelne Urquelle fur den Narzißmythos konnte bisher nicht ausgemacht werden. Vielmehr erwähnt die griechische sowie die lateinische Literatur Narziß an vielen Stellen. Ausführlich behandelt findet sich der Mythos aber nur bei Photios‘ Epitome der Dihegesis des Mythographen Konon, bei Pausanias und Ovids Metamorphosen. Die Ovidische Fassung soll hier ausführlicher besprochen werden, ist sie doch nicht nur die umfassendste der drei genannten, sondern die für die Rezeption im Mittelalter maßgebliche.Trotz der eindeutig auf Ovid basierenden Rezeption des Narzißmythos im Mittelalter bleibt für das antike Verständnis des Mythos auf die inhaltlich durchaus stark abweichenden Varianten bei den erwähnten Autoren hinzuweisen. (349)
Farbabb. 10: Narziß, Roman de la Rose, Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 65, fol. 12v; ebd. S. 90
Farbabb. 10: Narziß, Roman de la Rose, Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 65, fol. 12v; ebd. S. 90

2. Narzißmythos bei Ovid

In dem dritten Buch der Metamarphosen des Ovid (350) wird Narziß als außergewöhnlich schöner Junge beschrieben, der die Liebe und Bewunderung aller auf sich zieht, jedoch niemals erwidert. Während der Jagd gelangt er an eine Quelle. Im Wasser sieht er sein Spiegelbild und verliebt sich in es in der Annahme, ein wirkliches Gegenüber vor sich zu haben. Nach einer Weile realisiert er, daß es sich bei dem Bild im Wasser um sein eigenes Spiegelbild handelt und erkennt so die Unmöglichkeit seiner Liebe, woraufhin er stirbt. Zurück bleibt eine Blume, die Narzisse. Über diesen, auf die Figur des Narziß reduzierten Handlungsablauf hinaus, fügt Ovid zwei weitere Episoden in die Erzählung ein, die des Sehers Tiresias sowie die der Nymphe Echo. Die Befragung des Sehers Tiresias geht der Erzählung voraus. Die Mutter des Narziß, die Nymphe Liriope, fragt Tiresias, ob denn ihrem neugeborenen Kind ,,... an esset / tempora maturae visurus longa senectae," ( ,,...bestimmt sei, / daß er nach langer Zeit die Reife des Alters erlebe") (351) , was der Seher bejaht mit der Einschränkung: " ,,si se non noverit" (,,Wird sich selbst er nicht schauen!") (352)

Echo ist eine Nymphe, deren Vergehen es war, die Göttin Juno durch lange Reden erfolgreich davon abgehalten zu haben, andere Nymphen zusammen mit Jupiter zu überraschen. Deshalb wird sie damit bestraft, die Sprache nur noch zum Wiederholen des von anderen Gesagten benutzen zu können. Diese Nymphe verliebt sich in Narziß noch bevor er sein Spiegelbild im Wasser gesehen hat. Narziß ist zunächst verwirrt von dem Wechselspiel, das sich zwischen seinen Fragen und den Wiederholungen der Echo entwickelt.  Als aber Echo auf Narziß zustürmt und ihn umarmen will, flieht dieser mit den Worten: ,,manus complexibus aufer! / ante’ ait ‘emoriar, quam sit tibi copia nostri!" (,,Nimm weg von mir deine Hände! / Eher möche ich sterben, als daß ich würd dein Eigen!") (353) Auf diese Weise zurückgewiesen, verwandelt sich Echo in Stein, behält aber ihre alles wiederholende Stimme.

Für die Verbildlichung bietet der Mythos bei Ovid eine ganze Reihe von Anregungen: Narziß ist sehr schön, er ist mit der Jagd in einem Wald in der Nähe einer Quelle beschäftigt. Diesen Ort beschreibt Ovid sehr ausführlich. In seiner Kälte und Weltabgeschiedenheit ist er mit dem Verhalten des Narziß vergleichbar. Da nicht einmal Tiere diese Stelle im Wald aufsuchen, ja selbst die Bäume den Quell mit keinerlei Zweigen verunreinigen, wird die Unberührtheit ins Unnatürliche gesteigeit. Dieses landschaftliche Ebenbild zu Narziß bietet andererseits auch das Bild einer Ideallandschaft, in welche das Unheil erst mit Narziß hineingetragen  wird. In beiden Fällen stellt die Landschaft eine auf die Situation des Narziß bezogene Kulisse dar. Die interpretatorischen Schwerpunkte des Mythos sind sehr zahlreich und machen seine besondere Dichte aus. So ist beispielsweise in der Gegenüberstellung von Echo und Narziß das Motiv der unerfüllbaren Liebe gesehen worden, wie auch das die Metamarphosen überhaupt bestimmende Wechselspiel zwischen Ich und Welt. Eine weitere Variante der Interpretation besteht in der Betonung des inneren Konflikts des Narziß, dem auch das Erkennen seines Spiegelbildes nicht zur Überwindung seines Zustandes des In-sich-gefangen-seins verhilft. Die Schicksalhaftigkeit und die Selbstidentifizierung sind die Hauptpunkte dieser Deutung. Das Spiegelbild kann darüber hinaus als die dichterische Auseineinandersetzung mit dem Thema des Abbildes und damit der Malerei selbst verstanden werden. In dem Ausbrechen des Narzißmythos aus dem von Ovid sonst gepflegten zyklischen System, kann die besondere Schwere des Vergehens des Narziß gesehen werden, endet er doch als Verbannter in der Unterwelt. Diese mögliche moralische Bewertung des Narzißmythos bildet die Grundlage fiir den Umgang mit dem Mythos im Mittelalter.

3. Ergebnisse

Die antiken Dichter haben die Geschichte des Narziß uneinheitlich erzählt und ihre Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt. Das Mittelalter rezipierte den Narzißmythos uber Ovids Metamorphosen, die die ausführlichste antike Schilderung des Mythos enthalten. Dort ist Narziß ein besonders schöner Jüngling, der die Liebe der Nymphe Echo zurückweist und sich statt dessen in sein eigenes Spiegelbild verliebt, das er in  einer Quelle erblickt, nur um der Unerreichbarkeit seiner Liebe ansichtig zu werden und darüber zu sterben. Angesichts der zahlreichen Deutungsvarianten, denen der Mythos in der Fassung von Ovid offen steht, scheint es beinahe ein Gewaltakt, Narziß auf eine einzelne Moral reduzieren zu wollen. Das Mittelalter konzentriert sich dennoch auf die ethische Dimension des antiken Mythos. Eine solche hält Ovid bereit, indem er Narziß anders als seine übrigen mythologischen Figuren nicht verwandelt, sondem in die Unterwelt verbannt.

 

(Auszug aus Teil C. Wurzeln und Entwicklung des Mythos des Narziß, ebd. S. 93-94)

 

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