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ISLAM

Der Islam entsteht im spätantiken Vorderen Orient, einem Kulturraum mit ausgeprägten religionspluralen Strukturen. Die islamische Kultur wird diese Vielfalt bewahren, jüdische und christliche Gruppen an ihrer Entwicklung beteiligen und einen kontinuierlichen Kontakt auch zu den iranischen und indischen Kulturen pflegen. Wenn sich die dieser Diversität der Traditionen verdankte außergewöhnliche Bandbreite theologischer und philosophischer Denkansätze auch erst sukzessiv entfaltet, so ist doch bereits der aus dem kulturell peripheren Arabien hervorgegangene Koran ein vielschichtiger Text. Mit dem Koran, dessen Einzeltexte im Zeitraum zwischen 610 und 632 von dem Propheten Muhammad (arabisch: muammad, "hochgepriesen") in Mekka und anschließend Medina öffentlich verkündet wurden, erreichte ein neues religiöses Paradigma eine mit der Autorität der Bibel selbst vergleichbare Gültigkeit.

Koran-Kommentar von As-tabar. Handschrift Türkei 1746; ebd. S. 171
Koran-Kommentar von As-tabar. Handschrift Türkei 1746; ebd. S. 171

Anders als die hebräische Bibel bildete sich der Koran jedoch in einer Umgebung heraus, die mit bereits existenten heiligen Büchern vertraut war, so daß die koranischen Verkündigungen von Anfang an gleichsam der Schwerkraft einer als Ziel vorgezeichneten "heiligen Schrift" unterworfen waren. Nach dem Tod Muhammads wurden die - literarisch und theologisch verschiedene Entwicklungsstadien reflektierenden - Verkündigungen zu einem homogenen Text vereinigt und innerhalb weniger Jahrzehnte mit staatlicher Autorisierung veröffentlicht. Dem Koran kommt als Urkunde der Offenbarung Gottes und damit Quelle des Glaubens und Norm des Handelns in der religiös-politischen islamischen Gemeinde (umma) — namentlich nach dem Sieg des Dogmas von der Ewigkeit des Korans im 9. Jahrhundert - höchste Autorität zu. Das koranisch begründete Herzstück des Islam ist das Bekenntnis zu dem einen Gott; es verbindet sich mit dem Glauben an das Jüngste Gericht und jenseitige Vergeltung sowie der Überzeugung von der Grundlegung der Geschichte durch die göttliche Entsendung von Propheten. Während der Koran aus dem kulturell marginalen Raum der Arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts hervorgegangen ist, entsteht die fur das spätere Koranverständnis maßgebliche Exegese bereits im metropolitanen Milieu der sich mit der Expansion des Islam etablierenden Machtzentren.

Hier sind iranische und  indische Traditionen ebenso lebendig wie das Erbe verschiedener jüdischer,  christlicher und häretischer Gruppen, so daß der Kommentar religiöses Wissen ganz neuer Dimension und Diversität an den Koran heranträgt. Schlichte koranische Aussagen werden so durch neue theoretische Erkenntnisse problematisiert, offen gebliebene Fragen durch neues Wissen geschlossen. Andererseits hat die Exegese das Verständnis des Korans jedoch auch verengt, indem sie die Spuren der zu Lebzeiten des Propheten bestehenden interreligiösen Kohabitation zugunsten späterer Exklusionstendenzen marginalisierte. Die gegenwärtig in der Koranforschung verbreitete Fusion von Koran und Kommentar schreibt diese anachronistische Traditionsentwicklung fest, sie verstellt den Blick auf die zu Lebzeiten des Propheten noch im Fluß befindliche Auseinandersetzung zwischen Verkünder und Hörern. Die Koranexegese blickt heute auf eine mehr als zwölfhundertjährige Geschichte der philologischen, dogmatischen, mystischen und philosophischen Erklärung und Ausdeutung zurück, die auch nach der Bemühung der Reformtheologen des 20. Jahrhunderts um eine Neuorientierung der modernen Welt auf koranischer Grundlage noch keineswegs abgeschlossen ist. — Neben den Kommentaren gilt die Prophetenvita (sīra) seit dem 8. Jahrhundert bis heute fur den Muslim als unverzichtbares Referenzwerk fur das Verständnis des Korans. Obwohl das hier entstehende stark mythisierte Prophetenbild in deutlichem Kontrast zu dem aus dem Koran selbst erkennbaren nüchternen Selbstverständnis Muhammads steht, ist seine Wirkungsmacht durch die Geschichte kaum zu überschätzen. Innerislamisch hat es vor allem der Frömmigkeit entscheidende Impulse gegeben und sogar eine mystische Muhammad-Verehrung inspiriert. Negativ hat es der im Westen tradierten abwertenden Einschätzung des Propheten immer neuen Stoff geliefert.

Während der Koran in der islamischen Tradition das inspirierte Wort Gottes ist, gilt die Prophetentradition (adīth), deren sechs kanonische Sammlungen aus dem 9. und 10. Jahrhundert alle Bereiche des religiösen und weltlichen Lebens der Zeit berühren, als nicht dem Wort, sondern nur dem Inhalt nach inspiriert. Auf Aussprüchen des Propheten beruht nicht zuletzt das im 8. und 9. Jahrhundert kodifizierte islamische Recht (fiqh). Dessen Systematik als Religionsgesetz (shar'īa) kann sich nur für wenige Probleme auf den Koran selbst berufen, die Rechtspraxis rekurriert deswegen neben Koran, Hadith und dem Konsens der Gemeinde auch auf den Analogieschluß. Hadith-Traditionen in ihrer Funktion als konsensgestützter "Brauch" (sunna) waren bis in die Moderne prägend für die privaten und öffentlichen Verhaltensnormen, an denen sich die Gesellschaft in einigen Regionen der islamisch geprägten Welt nach wie vor orientiert.

Koranhandschrift, um 900; ebd. S. 167
Koranhandschrift, um 900; ebd. S. 167

Islamische Theologie hat ihre Anfänge im 8. Jahrhundert. Die sich im 9. Jahrhundert zeitweise auch politisch durchsetzende dialektische Theologie, vertreten von der sogenannten  Mu‘tazila, leugnet den von der Tradition suggerierten Anthropomorphismus, verteidigt die Handlungsfreiheit und geht bei ihrer Theodizee von einer Vereinbarkeit der göttlichen Weisheit mit den Schlüssen des menschlichen Verstandes aus. Prinzipien und Methodik der Mu‘tazila sind inspiriert von dem neuen - durch eine massive griechisch-syrisch-arabische Übersetzungsbewegung seit dem 9. Jahrhundert vermittelten - hellenistischen Wissen, das nicht nur Muslime, sondern auch jüdisch- und christlich-arabische Denker prägt. Wenn sich Mu‘tazila auch nicht nachhaltig gegen die Orthodoxie durchsetzen konnte, der es gelang, die rational-entmythisierenden Tendenzen durch das implikationsreiche Dogma von der Unerschaffenheit des Korans zu ersticken, hat die Mu‘tazila doch in der modernen Neubesinnung auf einen den Herausforderungen der Gegenwart gewachsenen Islam eine neue intensive Rezeption erfahren. Der von al-Ash'arī (gest. 935) formulierte theologische Kompromiß, der sich im sunnitischen Islam durchsetzen sollte, wurde vor allem durch al-Ghazālī (gest. 1111) erweitert, der der Mystik einen angemessenen Platz in der Theologie zuzuweisen versuchte.

Kontinuierliche Kontakte zwischen den Nachbarreligionen Islam, Judentum und Christentum reflektieren sich in der gemeinsamen Wissenschaftssprache und Methodik der islamischen und jüdischen Religionsphilosophie. Interreligiöse theologische Debatten wurden auch öffentlich ausgetragen, sie haben sich seit 8. Jahrhundert zu einem umfangreichen Corpus apologetisch-polemischer Literatur akkumuliert.

(...)

Kulturelle Vielfalt ist ein Charakteristikum des Islam, das sich in der Aneignung von Traditionen ebenso manifestiert wie in der Weitervermittlung von Wissen. Obwohl die wissenschaftlichen und philosophischen Beiträge des Islam und des arabischen Judentums zur Wissenskultur des europaischen Mittelalters bekannt sind, wird diese Interaktion zumeist, gemessen an der wesentlich prestigereicheren Antikenrezeption in der Renaissance, als marginal erachtet und zudem als eine Art Rückkehr europäischen Bildungsgutes nach Europa verstanden. Gotthard Strohmaier (Hellas im Islam, Wiesbaden 2003) hat sich gegen die Verstellung der europäischen Rezeption aus dem Arabischen als eines Périple de retour, etwa bei Jacques Le Goff gewandt, der annimmt, "das griechische Wissen sei nach einer Rundreise nach Europa heimgekehrt: In Wirklichkeit hat sich das Wissen auf drei Wegen mehr oder weniger gradlinig aus dem Osten nach Westeuropa fortgepflanzt, erstens über die Römer und die lateinische Sprache, zweitens über die arabische Rezeption, drittens über die Bewahrung der byzantinischen Handschriftenschätze. Von einer Rundreise kann also keine Rede sein". Vor allem aber "blieb (es) eben nicht nur bei solchen, ihrem Charakter nach rezeptiven Vorgängen. Die Muslime entwickelten ... ihre eigenen Fragestellungen zu den verschiedenen Wissensbereichen". Was Ulrich Rudolph (Islamische Philosophie, Munchen 1004) für die islamische Philosophie aufrechterhält, läßt sich verallgemeinern: Ebensowenig werden die künstlerischen Leistungen, die im geographischen Europa selbst, im arabischen Spanien, aus dem Zusammenspiel verschiedener sich arabisch artikulierender Kulturen entstanden sind, in ihrer Originalitat und damit ihrem Stellenwert für die spätere europäische Kultur bisher angemessen gewürdigt. Die heute geläufige - durch das politische Tagesgeschehen zementierte - scharfe Grenzziehung zwischen islamischer und jüdischer Kulturtradition ist historisch betrachtet künstlich. Sie ist insofern besonders paradox, als es die Gelehrten der Wissenschaft des Judentums waren, die die spanisch-arabisch-jüdische Kultur in ihrer Signifikanz als europäisches Erbe wiederentdeckten. Wenn auch nicht ganz ohne polemisch--apologetische Motivation, erhoben die jüdischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts die Zeit der spanischen Symbiose in den Rang einer Idealepoche kultureller Selbstentfaltung fur die Juden. In der Tat wurde von spanischen Muslimen und Juden eine Fülle von ästhetischen Erfahrungen geteilt, die sie in identischen Gattungen säkularer Literatur wie dem Liebesgedicht (ghazal), dem gelehrten Traktat (maqāla) und dem pikaresken Erzählzyklus (maqāma) zum Ausdruck brachten. Selbst innerhalb des religiösen Schrifttums läßt sich die Beweglichkeit von Ideen und Denkstrukturen - wie etwa der dialektischen Theologie, die sich in jüdischen theologischen Werken wiederfindet, oder auch der Mystik - nicht übersehen. Sie schlägt sich in beiden Kulturen nicht nur in gleichen literarischen Gattungen, sondern gelegentlich sogar in gleichen oder ähnlichen Werktiteln nieder. Der Vermittlung der Philosophie und des scholastischen Arguments an das mittelalterliche Christentum geht also Jahrhunderte zuvor eine Kultursymbiose zwischen dem Islam und dem arabischen Judentum voraus. Auch dieser vergessenen Realität der Permeabilität und Hybridität der islamisch-arabischen Kultur soll das Programm des Verlags der Weltreligionen Rechnung tragen. Doppeleditionen je eines islamisch-arabischen und jüdisch-arabischen bzw christlich-arabischen Textes sollen dabei die vielfachen Spiegelungen der arabisch-orientalischen Kulturen dokumentieren. (...)

 

(Auszug aus Die Religionen der Welt - Ein Almanach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen. Hg.: Hans-Joachim Simm. Mit zahlreichen Abbildungen. Frankfurt am Main und Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2007, S. 159-160; 164-165)

 

Verlag der WELTRELIGIONEN

Die Religionen der Welt - Ein Almanach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen. Hg.: Hans-Joachim Simm. Mit zahlreichen Abbildungen. Frankfurt am Main und Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2007
Reihe Editionen