Geleitwort der Projektleiter
In Zentralchina geben häufig alte Schriftzeugnisse den Anstoß zur Überprüfung historischer Annahmen durch archäologische Feldforschung. Für Gebiete außerhalb der chinesischen Kernzone wie Xinjiang ist die Erschließung ihrer alten Geschichte mit den Methoden der Archäologie dagegen ungleich wichtiger. Stürme, Starkregen und Straßenbauer sind häufig die Ersten, die alte Friedhöfe wieder freilegen. Bemühungen der Wissenschaftler hingegen um finanzielle Förderung systematischer Suche nach Siedlungsspuren sind oft langwieriger. Was zutage kommt, hat bislang noch immer und jeden überrascht. Seien es die Bootssärge mitten in der Wüste Taklamakan mit allen Zeichen von Rinderhirten oder die Holzgefäße aus Yanghai mit Dekor im so genannten „skythischen Tierstil" neben Pferdehirten - die Funde beweisen die prähistorische Existenz kulturell höchst komplexer Gemeinschaften in Gegenden, die heute für Menschen nicht mehr bewohnbar sind. Ihr Leben war gebunden an Wasser, und das Aufspüren ihrer Lebens- und Migrationsräume hat viel zu tun mit der Rekonstruktion von Klima und Vegetation in Zentralasien vor viertausend oder dreitausend Jahren.
Unweit der modernen Oasenstadt Hotan am Fuße des Kunlun-Gebirges liegt auf einer Hochterrasse das Gräberfeld Sampula, aus dem die Ausstellung einige der bemerkenswertesten Objekte präsentiert. Ein kostbares Stück Textil mit dem Porträt eines lanzentragenden Kriegers und einem Kentauren verdeutlicht exemplarisch die Besonderheit vieler Funde dieser Region. Es stammt aus Graeco-Baktrien, d.h. aus dem Gebiet zwischen Usbekistan und Tadschikistan im Norden sowie dem nördlichen Afghanistan und Pakistan im Süden, wo es im 1., spätestens 2. Jh. n. Chr. als Teil eines Bildteppichs gefertigt wurde. In Sampula gelangte es später als Hosenbein an einem Verstorbenen ins Grab. Das Gewebe wechselte Ort, Besitzer und Nutzungszweck. Und den Ausstellungsbesuchern bleibt es heute überlassen, sich von der Ausstrahlungskraft des einzelnen Objektes verzaubern zu lassen oder auch der Indizienspur seiner Verwendungsgeschichte zu folgen. Bei der Auswahl der Objekte waren uns sowohl die Ästhetik des Einzelgegenstandes als auch die Kontextgeschichte seiner Fertigung und Nutzung sowie die Darstellung von Zusammenhängen in Raum und Zeit durch Objektgruppen wichtig. Viele Fragen haben sich erst aus dieser einmaligen Zusammenschau ergeben, weshalb die Ausstellung eben auch ein Aufbruch ist zu neuen Erkundungen und Begegnungen.
Christoph Lind Mayke Wagner
(ebd., S. 16)