Deiokes, König der Meder
Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten
Herodots Schilderung von Deiokes' Aufstieg zum König (1,96-1,101,1) läßt sich auf verschiedene Weisen lesen: als Quelle für die altorientalische Geschichte und ihre Deutung durch einen Griechen, als genuin historiographischer Text am Anfang der Gattungsbildung und als Beitrag zu einem politischen Diskurs.
Die hier vorgelegten, einander ergänzenden Interpretationen verstehen sich als Muster für einen künftigen intra- und interdisziplinären Kommentar zum Werk des Geschichtsschreibers zwischen Ost und West.
Franz Steiner Verlag
Aus dem Inhalt
Josef Wiesehöfer: Daiukku, Deiokes und die medische Reichsbildung
Mischa Meier: Die Deiokes-Episode im Werk Herodots. Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen griechischer Geschichtsschreibung
Barbara Patzek: Die Deiokes-Erzählung im Rahmen der Persergeschichten Herodots: eine konsequente Reihe historisch-erzählerischer Sinngebungen?
Uwe Walter: "Da sah er das Volk ganz in seiner Hand." Deiokes und die Entstehung monarchischer Herrschaft im Geschichtswerk Herodots
Die Deiokes-Episode im Werk Herodots - Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen griechischer Geschichtsschreibung
Mischa Meier
I. Einleitung: Mythisierung historischer Gestalten bei Herodot - die Beispiele Deiokes und Solon
"In seiner bekannten Einführung in die griechische Geschichtsschreibung bringt Klaus MEISTER die Leistungen Herodots für die Ausformung dieser literarischen Gattung auf eine knappe Formel: "Indem er die mythische Epoche ausklammerte und sich allein auf das "Von Menschen Geschehene" konzentrierte, ging er einen entscheidenden Schritt über Hekataios hinaus und erzielte auch auf dem Gebiet der geographischen Forschung beträchtliche Fortschritte, indem er Empirie und Autopsi an die Stelle von Spekulation und Konstruktion setzte". MEISTER repräsentiert mit dieser Aussage die communis opinio in der Forschung. Herodots Fokussierung des Darstellungshorizontes auf das "von Menschen Geschehene" (τα γενόμενα έξ άνθρώπων) und die damit verbundene Abkehr von Götter- und und Heroengeschichten, d.h. vom Mythischen, gilt allgemein als bahnbrechende Leistung auf dem Weg zur Historiographie. Daß der Historiker trotz allem weiterhin mythischen Vergangenheitsbildern verpflichtet ist, wird demgegenüber zwar gesehen, scheint mir bislang aber noch nicht hinreichend untersucht worden zu sein. Bei Herodot findet sich nämlich sowohl dasjenige, was wir mit dem Begriff "Mythos" umschreiben, als auch dasjenige, was wir "Geschichte" nennen, in einer besonderen Weise verflochten. Ich möchte dies im folgenden veranschaulichen, ausgehend von einer Passage im Werk Herodots, die vor diesem Hintergrund bisher noch nicht hinterfragt worden ist: Der Deiokes-Episode, die sich zu Beginn des sog. Medikos Logos findet, in dem der Autor einen Überblick über Entstehung und Geschichte des Mederreiches gibt.
Zunächst sei noch einmal der Inhalt der Deiokes-Episode kurz rekapituliert: Unter den Medern, so Herodot, lebte einst ein kluger Mann (άνηρ (...) σοφός) namens Deiokes, Sohn des Phraortes, der nachdrücklich nach einer Tyrannis strebte (έρασθείς τυραννίδος). Dieses Vorhaben soll er wie folgt umgesetzt haben: Als angesehener (δόχιμος) Mann nahm er die nach der Abschüttelung der Assyrerherrschaft entstandene Gesetzlosigkeit in Medien (έούσης ανομίης πολλης άνα πάσαντην Μηδιχήν) zum Anlaß, sich zunächst in seinem Dorf zum Richter aufzuschwingen und dabei durch außergewöhnlich gerechte Urteile aufzufallen, so daß sein Ansehen und sein Rat bald über die Dorfgrenzen hinaus gefragt waren. Als Deiokes seinen Einfluß im Volk gefestigt hatte, zog er sich plötzlich und wohlkalkuliert zurück, woraufhin Anarchie ausbrach. In einer Volksversammlung (συνελέχθησαν οί Μηδοι) beschlossen die Meder daher, einen König zu wählen, und bestimmen dazu auf Anraten seiner Freunde Deiokes. Dieser befahl ihnen nun, ihm einen Palast, der seiner Herrschaft würdig sei (αξια της βασιληίης), zu errichten und ihm eine Leibwache zu stellen. Die Meder gehorchten. Als Deiokes somit die Herrschaft sicher besaß (ό δε ώς εσχε την άρχην), zwang er die vorher verstreut lebenden Meder, sich in einer Stadt anzusiedeln, und erbaute Ekbatana. Die (im Altertum legendäre) Stadt lag auf einem Hügel und war von sieben Mauerringen umgeben, in deren innerstem sich der Palast und die Schätze befanden. Der äußerste Mauerring soll - so Herodot - ungefähr den Umfang der Mauer Athens besessen haben; alle Brustwehren waren verschieden farbig gestaltet, die beiden innersten jedoch silbern und golden verziert. Als die ummauerte Stadt errichtet war, führte Deiokes ein strenges Hofzeremoniell ein: Der König wurde unnah- und unsichtbar, nur durch Boten zugänglich. Lachen und Spucken war in seiner Gegenwart verboten. Herodot betont, daß solche Maßnahmen vor allem gegen den medischen Adel gerichtet waren. Nachdem er auch diese Dinge geordnet hatte und die Tyrannis gesichert war (έπείτε δε ταυτα διεχόσμησε χαί έχράτυνε έωυτον τη τυραννίδι), schwang Deiokes sich zum strengen, nur durch schriftliche Klagen zugänglichen Richter auf. Jedes Verbrechen wurde entsprechend seiner Schwere geahndet, und überall in seinem Herrschaftsbereich hatte Deiokes seine Späher und Lauscher (χαι οί χατάσχοποί τε χαι χατηχοοι ησαν άνα πασαν την χωρην της ηρχε) . Unter seiner Herrschaft wurden die medischen Stämme geeint.
Die Forschung ist lange davon ausgegangen, daß Herodot sich im Medikos Logos, insbesondere in der Deiokes-Geschichte, auf mündliche Überlieferung gestützt habe. Gegen diese Sichtweise hat allerdings Heleen SANCISI-WEERDENBURG berechtigte Zweifel angemeldet. Sie zeigt, daß der Medikos Logos überhaupt nicht die Strukturen aufweist, die für mündlich überliefertes Material charakteristisch sind und z.B. in Herodots Berichten über den Werdegang des Kyros noch deutlich hervorscheinen. Was dem Medikos Logos nämlich vollkommen fehle, seien die für mündlich überlieferte Erzählungen typischen "stories, stereotypes, clichés, faits et gestes of kings"; stattdessen finde man ein chronologisches Rahmenschema und lediglich im Fall des Deiokes eine konkrete "story". Ihr Fazit lautet dementsprechend, daß der Medikos Logos " in fact looks more like a chronicle than a history drwan from an oral source". Die einzig plausible Erklärung für das für Herodot vollkommen untypische farblose Aufzählen von Fakten im Medikos Logos sei die Tatsache, daß dem Historiker nicht mehr Material zur Ausformung vorgelegen haben könnte. Quelle für dieses spröde, chronologisch und nach einzelnen Herrschern strukturierte Material könnten deshalb lediglich babylonische Archive gewesen sein.
Auch SANCISI-WERDENBURG muß jedoch eingestehen, daß sich die Deiokes-Episode innerhalb des Medikos Logos dadurch auszeichnet, daß sie immerhin eine ausgearbeitete "story" bietet. Diese jedoch stellt, wie bereits seit langem gesehen wurde, ein reines Kunstprodukt dar, geformt aus Versatzstücken griechischer Tyrannentopik bzw. Tyrannenbilder, aus sophistischer Staatstheorie sowie aus Elementen orientalischen Hofzeremoniells in griechischer Deutung. Ersteres evoziert sogleich die Gestalt des Peisistratos, seinen Weg zur Macht und deren Absicherung (Leibwache, Richtertätigkeit, direkter Vergleich Ekbatanas mit Athen), letzteres manifestiert sich vor allem in der völligen Unnahbarkeit des Herrschers sowie in den Anspielungen auf seinen sagenhaften Reichtum. Altorientalisten warnen daher aus gutem Grund davor, die Deiokes-Geschichte als Quelle für eine medische Reichsbildung heranzuziehen, und Heleen SANCISI-WEERDENBURG, Josef WIESEHÖFER (in diesem Sammelband) und andere sind sogar skeptisch, wenn es darum geht, die Existenz eines medischen Großreiches überhaupt zu postulieren, solanges es archäologisch nicht nachweisbar sei und die Schriftquellen - besonders Herodots Medikos Logos - methodisch in dieser Hinsicht hochproblematisch seien. Trotzdem wurde in der Forschung wiederholt darauf hingewiesen, daß - ebenso wie die übrigen Namen im Medikos Logos - auch der Name "Deiokes" keine Erfindung darstelle. Assyrische Quellen kennen einen Mannäerfürsten namens Daiukku, der mit Rusā I., dem König von Urartu, gegen einen Verbündeten Sargons II. konspiriert haben soll und von diesem daher im Jahr 715 v. Chr. nach Hamath in Syrien deportiert wurde. Allerdings wird Daiukku nirgendwo als Meder bezeichnet; überdies nennen die assyrischen Chroniken sowohl vor als auch nach der Deportation des Daiukku mehrere medische Herren, die Sargon tributpflichtig waren - mit anderen Worten: Eine Einigung der Meder, wie sie der herodoteische Deiokes vollzogen haben soll, ist für Daiukku auszuschließen. Und letztlich läßt sich die Chronologie im Medikos Logos mit der Datierung des Daiukku nicht synchronisieren. Der historische Daiukku führt im Hinblick auf de Deiokes Herodots also nicht weiter. Sofern er überhaupt die Vorlage für letzteren bot, so hat Herodot oder eine ältere Quelle etwas ganz anderes aus ihm gemacht.
Die Frage nach dem historischen Deiokes sowie seiner vermeintlichen Rolle innerhalb einer möglichen medischen Reichsbildung soll an dieser Stelle aber nicht weiterverfolgt werden - zu dieser Frage sei auf den Beitrag von Josef WIESEHÖFER in diesem Band verwiesen. Worm es im folgenden gehen soll, ist die Frage, warum Herodot mit Deiokes ein derartig mythisiertes Kunstprodukt präsentiert und inwiefern diese Konstruktion repräsentativ für die Methode des Historikers ist (...)"
(op. cit., ibid., S. 27-30)
"Mythos" und "Geschichte" bei den Griechen - Das Konzept der "intentionalen Geschichte"
"Der Mythos-Begriff ist bekanntlich schillernd und wurde gerade in den letzten Jahrzehnten verstärkt diskutiert. Es kann in unserem Kontext allerdings nicht darum gehen, sämtliche Eingrenzungen und Definitionen von Mythos durchzugehen und zu analysieren. Stattdessen erscheint es ratsam, insbesondere auf einen Punkt hinzuweisen, in dem sich der für die Antike anzuwendende Mythos-Begriff fundamental von landläufigen Vorstellungen und einigen modernen Definitionen unterscheidet: Mythos ist nach antiker Auffassung keineswegs mit "unwahr" oder "erdichtet" gleichzusetzen - ganz im Gegenteil: Der Mythos, wie er uns z.B. in der Ilias vorliegt, war konstituierender Bestandteil der eigenen Vergangenheit antiker Zeitgenossen, dessen, was wir heute "Geschichte" nennen, und die Ilias war insofern geradezu ein Geschichtsbuch. Mythos stiftet Identität in dem Sinne, daß Familien, Poleis oder Ethnien ihre Geschichte zumeist auf dem Weg von Genealogien in die entfernte Vergangenheit zurückverfolgen, dabei auf gemeinsame Vorväter stoßen und somit für die Gegenwart ein "historisch" fundiertes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln konnten. Mythos konnte politische Allianzen, aber auch Konfliktlinien aus der Vergangenheit heraus legitimieren, indem aktuelle Verhältnisse in mythischem Geschehen wiedergefunden wurden. Damit war er letztlich ebenso wie Geschichte, die ja auch zunächst lediglich das Konstrukt einer sich erinnernden Gruppe ist, erinnerte Vergangenheit. Ob diese Vergangenheit dabei in unserem Sinne real oder fiktiv war, ist zweitrangig. Aus diesem Grund hat Jan ASSMANN die fundierende Bedeutung des Mythos hervorgehoben und gefolgert: "Mythos ist die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit". Noch die Römer bezogen einen großen Teil ihrer eigenen Identität aus dem Unstand, daß sie sich als Nachfahren der Troianer betrachten konnten. Je älter ein mythisches Geschehen war, auf das man sich berufen konnte, desto höher war in Streitfällen die daraus zu gewinnende Legitimität, desto besser erschien die eigene Position gegenüber dem Gegner. "Mythos" und "Geschichte" waren in der Antike somit keine Gegensätze, sondern Bestandteile einer jeweils spezifischen (auf eine Person, eine Familie, eine Polis, ein Ethnos usw. ausgerichteten) Vergangenheit, oder - mit den Worten Hans-Joachim GEHRKES noch pointierter formuliert: "Der Mythos als vertrauter Vergangenheitsraum, von dem, was heute als Geschichte gilt, nicht prinzipiell (und allenfalls partiell) geschieden, war für die Griechen generell oder in den Poleis, Bünden oder kleineren Gruppen ihre Geschichte". Genauso wie Geschichte (im modernen Sinne) wurde der Mythos "geglaubt".
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es im Hinblick auf die Antike dann überhaupt noch sinnvoll ist, zwischen Mythos und Geschichte zu differenzieren, und in der Tat bleibt GEHRKE lediglich konsequent, wenn er diesen Unterschied letztlich aufgibt und in Anlehnung an Ergebnisse der Ethnosoziologie sowie auf Basis des methodischen Konzepts von Reinhard WENSKUS in seinem Standardwerk über Stammesbildung und Verfassung nur noch von "internationaler Geschichte" spricht und darunter dasjenige versteht, "was in einer Gruppe von der Vergangenheit" gewußt, wie über sie geurteilt (wird), was mit ihr gemeint ist" - unabhängig davon, was die historische Forschung im modernen Sinne davon hält". GEHRKES Konzept einer intentionalen Geschichte, die Mythos und Geschichte als zweckgebundene Konstrukte einer sich jeweils erinnernden Gruppe begreift und zur Mythhistorie vereint, ist insofern hilfreich, als es das besondere Verhältnis von Mythos und Geschichte, wie es für antike Gesellschaften zu berücksichtigen ist, klar hervorhebt. Trotzdem will ich im folgenden an der Unterscheidung zwischen beiden Bereichen festhalten, allerdings lediglich auf der Ebene des modernen Zugriffs. Denn als heuristisches Instrument erscheint mir die Differenzierung nützlich, wenn es darum geht, spezifische Entwicklungen innerhalb zeitgenössischer Auffassungen von Geschichte zu beschreiben. Gerade das Wissen um die für antike Historiker selbstverständliche Verbindung von Mythos und Geschichte zur Mythhistorie bei gleichzeitiger Trennung beider Bereiche in der modernen Analyse scheint mir der geeignete Weg zu sein, um in der Frage nach den Entstehungsbedingungen griechischer Historiographie einen Schritt weiterzukommen und damit auch die Ausgangsfrage nach dem Grund für die Konstruktion eines mythischen Reichsgründers Deiokes bei Herodot beantworten zu können."
(op. cit., ibid. S.31-33)
Moderne Theorien zur Entstehung der griechischen Geschichtsschreibung - Vom Mythos zum Logos ?
"Die moderne Forschung leitet die entstehende Geschichtsschreibung vornehmlich aus vier Wurzeln ab:
(1) Aus dem Epos, den Worten Otto LENDLES zufolge "die Hauptwurzel der griechischen Historiographie". Bereits im Epos - sowie in der archaischen griechischen Lyrik - wird deutlich, daß ein Bewußtsein historischer Kontinuität existierte. Genealogien dienen dazu, ununterbrochene Verbindungen in entfernte Vergangenheiten zu finden sowie unterschiedliche Geschehniskomplexe untereinander zu vernetzen, so daß ein differenziertes, gleichzeitig aber kohärentes Bild vom Vergangenen entsteht. So wird z.B. Diomedes in der Ilias als Sohn des Tydeus vorgestellt. Dieser wiederum gehörte zu den "Sieben gegen Theben", womit der troianische mit dem thebanischen Sagenkreis vernetzt wird. Andererseits verkörpert auch eine Figur wie Nestor aufgrund seines hohen Alters die Verbindung unterschiedlicher Mythenkomplexe und hält diese wie eine Klammer zusammen. Das Bedürfnis nach derartigen Verknüpfungen und der Schaffung einer einzigen, wenn auch innerlich vielfältigen Vergangenheit war offensichtlich groß. Es spiegelt sich vor allem im Epischen Kyklos, einer wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Reihe heute verlorener Epen, die sich um Ilias und Odysee gruppierten und die dort behandelten Geschehnisse in größere Kontexte einordneten, so daß schließlich ein zusammenhängender Bericht über die mythische Vorzeit vorlag. Schon die Theogonie, in der Hesiod (um 700 v. Chr.) versucht, mythische Überlieferung über die Genealogien der Götter systematisch zu ordnen, zeigt ein ähnliches Bestreben.
Das Epos weist darüber hinaus bereits deutliche Hinweise auf das Vorhandensein eines Bewußtseins historischen Wandels auf. Besonders anschaulich läßt sich dies am Weltaltermythos in den Werken und Tagen Hesiods verfolgen, der bereits mehrere mythhistorische Zeitalter (γένη) kennt.
Ein weiterer Aspekt, in dem das Epos auf die spätere Historiographie vorausweist, liegt in dem Bestreben, ethnographische und geographische Details zu vermitteln. Besonders die Odyssee ist reich an solchen Passagen, deren berühmteste wohl die Schilderung des Kyklopenlandes ist.
(2) Damit unmittelbar zusammenhängend werden als zweite wichtige Wurzel der Geschichtsschreibung zunehmende See- und Entdeckerfahrten, vor allem im Kontext der Kolonisation seit ca. 750 v. Chr., genannt. Sie weckten das Interesse an Beschreibungen entlegener Küsten und Länder und führten zur Entwicklung einer eigenen literarischen Gattung, die diese Anforderungen erfüllte und deren Erzeugnisse den Seefahrern als Handreichungen auf ihren Reisen dienen konnten: Des Periplus.
(3) Ein weiteres, vornehmlich auf Christian MEIER zurückgehendes Erklärungsmodell zur Entstehung der Historiographie geht davon aus, daß im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein breites Orientierungsbedürfnis innerhalb der athenischen Bevölkerung bestanden habe. Dieses sei die Folge eines Spannungsfeldes gewesen, welches sich wiederum ergeben habe aus der seit Kleisthenes bestehenden isonomen politischen Ordnung (d.h. der nominellen politischen Gleichberechtigung aller Bürger), aus der Erfahrung der Perserkriege und aus einem sog. "Verbesserungs-Bewußtsein".
(4) Als letzte Wurzel der Geschichtsschreibung erscheint in der Literatur die Ionische Naturphilosophie bzw. eine sich in ihr manifestierende zunehmend aufgeklärte Haltung. Der Milesier Anaximander etwa (ca. 610-540 v. Chr.) habe - so Klaus MEISTER - eine besondere Stellung im Rahmen des Prozesses der Herausbildung von Geschichtsschreibungen besessen, da er bereits eine Geschichte des Kosmos von seiner Entstehung bis zu seinem Untergang (wohl mit einer integrierten Geschichte der Lebewesen darin), ferner einen Himmelsglobus sowie eine Erdkarte geschaffen habe. "Eine solch großartige Konstruktion der Welt mußte geradezu (...) zu weiterer Ergänzung im Detail herausfordern: zu einer eingehenderen Berücksichtigung der Menschenwelt, zu einer Verbesserung der Erdkarte und zu einer erklärenden Beschreibung der Erde".
Insbesondere der letztgenannte Punkt innerhalb einer solcherart literarhistorisch-evolutionär konzipierten Entstehung von Geschichtsschreibung erscheint mir nicht unproblematisch. Er impliziert eine allgemeine Entwicklung von vorrationalen zu rationalen Erklärungsmustern für Vergangenheit und scheint mir einem in den Altertumswissenschaften verbreiteten Deutungsschema verhaftet zu sein, das eine lineare Entwicklung "vom Mythos zum Logos" postuliert, wobei der Begriff "Logos" in diesem Fall als Chiffre für eine "rationale" Geschichtsschreibung im Gegensatz zu "vorrationaler" Mythographie verstanden werden kann. Unsere Ausführungen zum Zusammenhang von Mythos und Geschichte in der Antike dürften jedoch bereits deutlich gemacht haben, daß in diesem Ansatz ein Problem liegt.
Nichtsdestoweniger werden zur Fundierung der These einer zunehmenden Rationalität im Umgang mit der Vergangenheit prominente Quellen angeführt. Als Kronzeuge wird dabei zumeist auf den ebenfalls aus Milet stammenden Geographen Hekataios zurückgegriffen (um 500 v. Chr.), der - unter Anaximanders Einfluß - mit einer Erdkarte (περίοδος γης), einer Erdbeschreibung (περιηγησις γης)) sowie einem Werk, das später unter den Titeln Genealogien (γενεαλογίαι), Heroengeschichte (ήρωλογία) und Historien (ίστορίαι) bekannt war, Beachtung gefunden hatte.
Hekataios formuliert das Programm der Genealogien in unmißverständlicher Weise: "Dies schreibe ich, wie es mir wahr zu sein scheint; denn die Geschichten (λόγοι) der Griechen sind zahlreich und lächerlich, wie sie mir erscheinen". Hekataios macht damit seine eigene, dezidiert subjektive Wahrheit zum maßgeblichen Kriterium seiner Darstellung und tadelt zugleich die ältere, in unserem Sinne mythische Überlieferung als lächerlich. Die Forschung betont insbesondere die kritische Grundhaltung des Hekataios als Marksteih im Prozeß der Entwicklung griechischer Historiographie, eine Grundhaltung, die sich bezeichnenderweise vor allem im Umgang mit dem Mythos manifestierte. So heißt es etwa in einem weiteren berühmten Fragment: "Aigyptos selbst ist nicht nach Argos gekommen, seine Söhne aber schon; es waren, wie Hesiod gedichtet hat, 50, wie ich selbst allerdings meine, nicht einmal 20". Stellvertretend für die übrige Forschung sei Klaus MEISTERS Kommentar zu dieser Aussage zitiert: "Indem Hekataios die kritische Grundhaltung und das Erklärungsbedürfnis der weltoffenen ionischen Naturphilosophie auf die Tradition über die Vergangenheit übertrug, hat er den Mythos einer rationalen Kritik unterzogen und ihn des Phantastischen und Übernatürlichen entkleidet. Angesichts des oben beschriebenen Verhältnisses von Mythos und Geschichte bei den Griechen erhebt sich dabei jedoch die Frage: Konnte Hekataios den Mythos überhaupt als Mythos kritisieren, wenn er doch gar nicht in der Lage war, ihn als Mythos und damit als unhistorisch zu identifizieren? In der Tat zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß Hekataios den Aigyptos-Mythos als solchen nicht angreift. Aigyptos ist für ihn eine historische Gestalt. Was den Geographen hingegen stört, ist die hohe Anzahl seiner Söhne, die schlichtweg dem allgemeinen Erfahrungshorizont widersprach; 50 Söhne hatte eben niemand. Somit wird ein Detail des Mythos korrigiert, der Mythos selbst jedoch bleibt über jeden Zweifel erhaben.
Natürlich wurde dies seit langem schon gesehen. Trotzdem besteht in der Forschung ein Unbehagen, aus diesem Befund die Konsequenz zu ziehen und deutlich zuzugestehen, daß auch ein Hekataios weiterhin einem mythhistorischen Vergangenheitsbild verhaftet war. Stattdessen wird seine - zweifellos bestehende - Reflexionsleistung hervorgehoben. Herodot, der "Vater der Geschichtsschreibung", habe den von Hekataios beschrittenen Weg dann fortgesetzt. Doch auch Herodot ist dem mythhistorischen Weltbild in derselben Weise verhaftet, und die in der Forschung postulierte Unterscheidung zwischen einem spatium historicum und einem spatium mythicum bei Herodot läßt sich - unabhängig von Fragen der Chronologie (die dieser Scheidung zunächst zugrunde lagen) - nicht aufrecht erhalten.
Selbstverständlich bedeutet Herodots Abkehr von Götter- und Heroengeschichten sowie seine Fokussierung auf "das von Menschen Geschehene" aus der Sicht des modernen Historikers einen Fortschritt gegenüber den mythographischen Werken seiner Zeitgenossen und Vorgänger, wenngleich nicht vergessen werden darf, daß bereits Hesiod in seinen Werken und Tagen eine bis dahin dem Götter- und Heroengeschehen vorbehaltene literarische Gattung - das Epos - für die Schilderung des mühevollen Alltags der Menschen geöffnet hatte. Dennoch ändert sich zwischen Hekataios und Herodot weniger, als es zunächst den Anschein hat. Auch Herodot bietet, wie schon Hekataios oder auch Xenophanes, Kritik an der Darstellung von Vergangenem und den Göttern im Epos (Homer, Hesiod); und er bietet natürlich Mythenkritik - in gesteigerter Form durch seine Beschränkung auf Menschengeschichte und durch sein Bestreben, nur das gelten zu lassen, was "unabhängige" Bestätigung erfährt. Aber gleichzeitig erkennt er ganz selbstverständlich die mythhistorischen Rahmenbedingungen sämtlichen vergangenen Geschehens an. Ich möchte für diesen Umstand lediglich zwei markante Beispiele herausgreifen: Zum einen die Chronologie, die Herodots Werk zugrundeliegt; sie geht aus von einem zentralen Fixpunkt, auf den sich - oft über verschlungene Umwege - alles Geschehen zurückführen läßt, nämlich die Zeit des Herakles, der 900 Jahre vor dem Autor selbst gelebt haben soll. Und selbstverständlich kennt Herodot eine vor der eigentlichhen Menschengeschichte anzusetzende Heroenzeit. Damit liegt dem Werk ein chronologisches Gerüst zugrunde, das wir vorbehaltlos als mythisch bezeichnen würden. Das zweite Beispiel betrifft die einleitenden Bemerkungen Herodots im Anschluß an das eigentliche Proömium: Der Autor geht hier der Frage nach der Ursache des Konfliktes zwischen Griechen und Barbaren auf den Grund, eines Konfliktes, der schließlich in den Perserkriegen kulminiert und der die zentrale Leitidee des Geschichtswerkes darstellt. Herodot zufolge begann alles mit wechselseitigen Frauenrauben. Phoinikische Händler hatten die argivische Prinzessin Io geraubt, woraufhin sich einige Griechen durch den Raub der Europa aus Tyros gerächt hätten, und noch vielschlimmer: Griechen seien auch nach Kolchis gekommen und hätten die Königstochter Medeia entführt. Dies wiederum habe Paris zum Anlaß für den Raub der Helena genommen. All dies, so Herodot, sei aber letztlich nicht allzu schlimm gewesen. Frauenraub sei zwar unschön, sich dafür zu rächen, sei jedoch dumm. Die Griechen aber hätten es übertrieben: Aus Rache für den Raub der Helena hätten sie sich dazu hinreißen lassen, Troia zu zerstören, mit der Konsequenz, daß seidem die Perser alles Griechische als feindselig betrachtet hätten.
Io, Europa, Medeia, Helena - diese Frauengestalten sind aus mythologischen Handbüchern wohlbekannt. Dennoch sind sie im Geschichtswerk des sonst allzu geläufigen mythischen Ambientes gänzlich entkleidet: "Die Mythen sind hier in besonderer Weise stilisiert, geradezu zurechtgestutzt. Sie sind in die Welt des Normalen, Bekannten, real Vorstellbaren versetzt". Hinzukommt, daß Herodot nach seinen Hinweisen auf die Frauenraube einen radikalen Schnitt zieht und diese insgesamt doch recht dunkle Vorgeschichte beiseite schiebt (weil man sie aufgrund einer schwierigen Quellenlage und mangelnder Überprüfbarkeit nicht wirklich wissen kann), um nun endlich mit demjenigen Mann zu beginnen, "von dem ich selbst weiß, daß er zuerst angefangen hat, den Griechen ungerechte Taten zuzufügen": dem Lyderkönig Kroisos. Damit markiert der Autor unbewußt exakt an dem Punkt einen Einschnitt und den Beginn der eigentlichen Darstellung, bis zu dem das kommunikative Gedächtnis seiner Zeitgenossen zurückreichte (also die in der Regel sich über drei Generationen zurückerstreckende gemeinsame Erinnerung) und hinter dem mündliche Traditionen im mythischen Niemandsland (dem sog. floating gap) versiegten.
Diese zeitliche Eingrenzung des Geschichtswerkes ist bemerkenswert und wirft ein interessantes Licht auf die Fähigkeiten des Autors, sein Material zu disponieren. Trotzdem - und darauf kommt es mir an - wird die in unserem Sinne mythische Vorzeit zwar nur als graues Frühstadium präsentiert, aber grundsätzlich nicht infrage gestellt. Stattdessen bildet sie einen weiteren Bezugsrahmen, in dem Ereignisse der jüngeren Vergangenheit ihren Platz zugewiesen bekommen (...)"
(op. cit., ibid., S. 33-39)