SCHILER
Zur Archäologie einer Heiligen Schrift
Überlegungen zum Koran vor seiner Kompilation
Ein hoffnungsloses Chaos in der Koranforschung?
In unserer Zeit, in der der Islam und mit ihm der Koran allmählich aus dem Halbschatten des Exotischen heraustritt und als Teil unserer gesellschaftlichen Realität Konturen annimmt, verwundert es nicht, dass sich auch die Koran-Forschungslandschaft neu bevölkert und methodisch diversifiziert. Nicht, dass wir bereits von einer kritischen Koranforschung nach dem Modell der Biblistik sprechen könnten- aber eine deutliche Skepsis gegenüber dem bis in die siebziger Jahre noch dominanten traditionellen Ansatz ist unverkennbar.
Zwei neue Forschungsansätze stellen, summarisch betrachtet, die von der islamischen Tradition überlieferte Darstellung der Korangenese infrage, die lange Zeit als weitgehend gesichert galt. Diese traditionelle Darstellung stellt die Koranentstehung als ein einzigartig rasch von Erfolg gekröntes Unternehmen dar: Die von dem charismatischen 'Prediger' Mohammed zwischen 610-632 einem zumeist heidnischen Publikum in Mekka, seit 622 in Medina, verkündeten göttlichen Offenbarungen wurden bereits circa 20 Jahre nach seinem Tod durch den Kalifen 'Uthman um 655 zu einem für die Glaubensgemeide autoritativen Corpus gesammelt. Mag diese erste offizielle Kodifizierung auch aufgrund der vielfach mehrdeutigen Schrift noch provisorisch gewesen sein, so wurde sie doch durch eine verlässliche mündliche Tradition abgesichert, bis die Textgestalt durch eine Orthographiereform eindeutig fixiert werden konnte. Der Koran - eine Botschaft an die Heiden, die bereits innerhalb von nur 22 Jahren zur Gründung einer neuen Religion geführt hat? Eine Schrift, die kurze Zeit nach dem Tode des Gründers fixiert wurde und uns authentisch erhalten ist?
Dieser Position trat bereits 1974 Günther Lüling ("Über den Ur-Qur'an")mit der These entgegen, der uns überlieferte Korantext sei keineswegs authentisch, vielmehr liege ihm als "Urtext" eine Sammlung christlicher Hymnen in einem dialektalen Arabisch zugrunde, die aufgrund der mehrdeutigen altarabischen Schrift missverstanden und später - von unbestimmten Akteuren - zu dem uns vorliegenden Koran umgeschrieben worden seien. Lüling geht von einem häretisch-christlichen Hinrgrund des Koran aus und nimmt einen Bruch in der Tradition mit der Expansionsbewegung an.
In einem großen neuen Wurf zeichnete 1977 John Wansbrough ("Qur'anic Studies. Sources ad Methods of Scriptural Interpretation") wieder ein neues Bild von der Korangenese: In Analogie zur Entstehung anderer kanonischer Schriften sei der Koran erst mehr als ein Jahrhundert nach dem Auftreten des Propheten kodifiziert worden. Er gehe auf eine frühestens im 9. Jahrhundert erfolgte Kompilation anonymer südirakischer Gelehrter zurück, die versprengte Logia des charismatischen Religionsstifters in polemisch-apologetische Diskussionen aus ihrem eigenen synkretistischen Milieu eingebettet hätten. Ein genuin arabischer Koran zwar, der aber die - erst späte - Entstehung einer islamischen Gemeinde aus einem nicht heidnischen, sondern judenchristlichen Milieu dokumentierte. Eine Modifikation dieser These, nach welcher der Koran auf eine messianische Bewegung im gleichfalls synkretischen Palästina zurückgeht, vertraten noch im selben Jahr 1977 Patricia Crone und Michael Cook ("Hagarism"). Auch in ihrer Sicht ist das islamische Geschichtsbild nicht mehr als ein heilsgeschichtliches - und damit als historische Quelle wertloses - Konstrukt.
In neuester Zeit hat nun Christoph Luxenberg mit seinem 2000 erschienenen Buch "Die syro-aramäische Lesat des Koran" den Lülingschen Ansatz wieder aufgegriffen und von Neuem die Rekonstruktion eines vor-islamischen christlichen Korantexts, nun eines Lektionars, unternommen. Er argumentiert sprachgeschichtlich: Das von ihm postulierte Lektionar, auf dem der Koran beruht, sei eine in einem literarisch noch unausgebildeten Arabisch abgefasste Übersetzung aus dem Syrischen, die lexikalisch, syntakisch und morphologisch so stark mit kirchensyrischen Elementen durchsetzt war, dass man bei ihr von einer mit den Regeln des klassischen Arabisch nicht zu erfassenden syro-arabischen Mischsprache zu sprechen habe.
Dieser Text sei durch die arabische Expansionsbewegumg von seinem synkretistischen Entstehungsmilieu abgelöst worden, so dass seine sprachliche Hybridität für die neue und rein-arabisch-sprachige Elite des Frühislam nicht mehr verständlich gewesen sei. Bei Luxenberg also ein rein christlicher Urtext, der - auf eine nicht weiter reflektierte Weise - zu einem islamischen Text umgeschrieben worden sei.
Die Provokation des Luxenbergschen Buches beruht, so Nicolai Sinai "zu einem wesentlichen Teil darauf, dass er das alleinige Deutungsmonopol der Arabistik über den Koran bestreitet: Ohne profunde Kenntnis des nicht-arabischen religiösen Schrifttums der Spätantike kann man der historischen Situation, aus welcher der Koran hervorgegangen ist, kaum gerecht zu werden hoffen. In eins mit dieser berechtigten Kritik beansprucht Luxenberg selbst jedoch ein analoges Interpretationsmonopol, wenn er behauptet, der Koran könne allein mit syrischer Sprachkenntnis richtig entschlüsselt werden".
Gegen die vereinfachende Illusion eines hermeneutischen Generalschlüssels zum Koran hilft nur die Aufarbeitung des bestehenden Forschungsdefizits: Es gilt, "von außen", historisch, das kulturelle und religiöse Umfeld in seiner ganzen Komplexität sichtbar zu machen. Es gilt aber auch, den Gegenweg einzuschlagen und den Koran selbst - zwar nicht als historisch unmittelbar auswertbare Quelle, aber doch - als literarisch-kodierte Aussage über seine Zeit und über seine eigene Genese ernst zu nehmen.
Denn was alle erwähnten neuen Ansätze verbindet, ist ihre Indifferenz gegenüber gegenüber dem uns überlieferten Korantext als Spiegel einer Gemeindebildung. Wansbrough trimmt den Koran auf eine Art "islamische Mischna" hin, eine gelehrte Kompilation von Exegeten; Lüling versucht, einen christlichen "hymnischen Urtext" wiederherzustellen, Luxenberg sucht ein christliches Lektionar.
Alle müssen dazu einzelne koranische Texttypen ausblenden: Wansbrough basiert seine These auf polemisch-apologetische Texte; er muss die sich im Koran selbst reflektierende Entwicklung, wie sie sich im Wandel der Wahrnehmung von Juden und Christen oder auch des Selbstbilds des Propheten vollzieht, ignorieren, da eine Entwicklung nicht mit einer von gelehrten Autoren intendierten - bibel-exegetischen - Kompilation vereinbar ist.
Lüling stützt sich auf hymnische Texte, ohne sich um eine Erklärung der übrigen Texttypen zu kümmern. In Luxenbergs Lektionar-These passen weder polemisch-apologetische, noch legislative Texte. Alle drei Autoren können daher an einer mikrostrukturellen Lektüre des Koran als Ganzem nicht interessiert sein, sie wählen willkürlich einzelne Textgattungen aus und extrapolieren aus dere Untersuchung Ergebnisse für den gesamten Koran.
Was ergibt sich, wenn man ohne einen "hermeneutischen Generalschlüssel", ohne eine vorweg eingenommene judenchritliche oder christliche Ausgangsposition an den Koran herangeht? Selbst wenn man - wie die "Revisionisten" beider Lager es tun - die gesamte islamische Tradition infrage stellt, steht die Koranforschung doch vor der Aufgabe, die beiden für die Islamgenese formativen großen Entwicklungen: die Entstehung der Gemeinde und die im Koran vereinigte Ansammlung von Texten mit kanonischer Autorität, in eine sinnvolle Beziehung zu setzen.
Dieser Aufgabe weichen allegenannten Forscher aus, gravierender: Sie blockieren sich selbst den Zugang zu ihr, da sie die Textbasis zu diesem Untersuchungsschritt vorschnell als heilsgeschichtliches Konstrukt oder gar als Fälschung verwerfen. Der Koran mit seinen verschiedenen Textsorten ist aber, bevor man ihn als "verfälscht" disqualifiziert, auf seine Beziehung zu der - in der Tradition als parallel zum Textwachstum laufend präsentieren - Gemeindebildung zu untersuchen.
Denn wenn dieser Untersuchungsschritt auch nicht direkt Licht auf alle von der "revisionistischen" Koranforschung aufgeworfenen Fragen, etwa betreffend die linguistische Situation im Umfeld des Koran, die Frage der Prädominanz der schriftlichen oder der mündlichen Tradition u.a. werfen kann, so ist er doch unverzichtbar, insofern er die konfessionelle Rahmensituation, die Entwicklung des Selbstbildes des Propheten und das sich wandelnde Verhältnis zu Juden und Christen beleuchtet.
Zugleich werden positive Erweise einer solchen Beziehung ein schwerwiegendes Argument zugunsten der dem Koran so oft bestrittenen Relevanz als historischer Quelle darstellen, ein Argument für die Authentizität des Koran, das wiederum als Plädoyer für eine Neuaufnahme der seit Wansbrough diskreditierten historisch-kritischen Koranforschung gelten kann.
(...)
(Auszug aus: Neuwirth, Angelika, Zur Archäologie einer Heiigen Schrift. Überlegungen zum Koran vor seiner Kompilation, in: Burgmer, Christoph (Hg.), Streit um den Koran. Die Luxenberg-Debatte: Standpunkte und Hintergründe, Berlin: Verlag Hans Schiler 2007, S. 130-134)