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Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (ZRG). 125. Band - Kanonistische Abteilung

Die kanonistische steht als jüngste Abteilung gleichwertig neben den anderen. Sie überblickt die Kirchengeschichte von den Anfängen mitsamt ihren diversen Verzweigungen, über das evangelische Kirchenrecht bis zu den staatskirchenrechtlichen Themen der Gegenwart, die besonders in Ländern mit politischen Umwälzungen interessieren. Das umfangreich überlieferte Material aus den kirchlichen Archiven läßt besonders deutlich veranschaulichen, daß Rechtsgeschichte nie ohne den Bezug zum konkreten politischen und sozialen Umfeld verstanden werden kann.

Die Herausgeber und ihre Anschriften:

Im Bereich des älteren kanonischen Rechts Prof. Dr. Andreas Thier (LSt. Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Rechtstheorie in Verbindung mit Privatrecht, Rechtswissenschaftliches Institut, Universität Zürich, Rämistraße 74/11, CH 8001 Zürich), im Bereich des Kirchenrechts nach 1400 Prof. Dr. Hans-Jürgen Becker, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäische Rechtsgeschichte und Kirchenrecht, D-93040 Regensburg, Universitätsstraße 31, und im Bereich des evangelischen Kirchenrechts Prof. Dr. Heinrich de Wall, Hans-Liermann-Institut, Hindenburgstraße 34, D-91054 Erlangen.

Aus dem Inhalt

Aufsätze

Seitenansicht, ebd., S. 211
Seitenansicht, ebd., S. 211

Der Berliner Gesangbuchstreit von 1781

von Hans Hattenhauer

Das Gesangbuch des Iandeskirchlichen protestantischen Obrigkeitsstaates hatte einen zwiefachen Charakter: Einerseits war es der verkörperte Inbegriff privater Frömmigkeit der Untertanen. Oft war es das einzige, immer aber das wichtigste Buch im Hause, dessen Lieder man auswendig kannte und aus dem man im Alltag Trost und Kraft schöpfte. Zugleich war es in Kirche und Schule das wichtigste Erziehungsinstrument, Leitbild obrigkeitlicher Politik. Zum Konflikt zwischen Obrigkeit und Untertan konnte es zu Zeiten kulturellen Wandels kommen, wenn sich das staatliche Erziehungsideal und die private Frömmigkeit zu weit voneinander entfernten. Wo die neue Zeit aus Sicht der Obrigkeit ein neues Gesangbuch zu fordern schien, regte sich leicht das Unbehagen der am Alten hängenden Gemeinden. Zwar musste es sich nicht zwangsläufig zum öffentlichen Protest verdichten, und die vielen Gesangbuchreformen des späten achtzehnten Jahrhunderts verliefen meist friedlich. Im Preußen des Jahres 1781 aber kam es darüber zur öffentlichen Krise in Staat und Landeskirche. Während es dem König wie auch bei der gleichzeitig in Gang gesetzten Kodifikation des Allgemeinen Landrechts darum ging, durch Einführung eines ,,allgemeinen" Gesangbuchs aus der Mehrzahl der "preußischen Staaten" den einen preußischen Staat zu machen, wollten die der Aufklärungstheologie anhängenden Berliner Oberkonsistorialräte durch ein neues Gesangbuch vor allem ihre von jenem verschmähten ldeen dem gemeinen Mann aufnötigen und überall im Volk zum Durchbruch bringen. Mit seinem Anliegen scheiterte der König vollständig, während die kirchlichen Aufklärer mit dem ihren nur in wenigen Großstadtgemeinen Erfolg hatten. Im Kampf gegen das neue Gesangbuch beriefen sich die Frommen mit Erfolg auf das königliche Versprechen unbedingter religiöser Toleranz. An dem nicht von den Pastoren, sondem erwecklichen Laien ausgehenden Protest scheiterte die staatlich verordnete Gesangbuchpolitik.

I. Die ,,Bibel des gemeinen Mannes":

,,Je besser ein Christ sich selbst und den wahren Glauben bekennet, je eifriger wird er beflissen seyn, mit geistlichen lieblichen Liedem GOTT, das höchste Gut, in der Kirche und zu Hause recht zu preisen ...  Wann nun solches vomehmlich dadurch mit göttlicher Hülfe geschehen kan, wenn gute Gesangbücher, darinnen man rechte geistliche Lieder finden kan, angeschaffet werden, so ist allerdings nöthig, daß man denen christlichen Gemeinden, solche zu erlangen, behülflich sey, zumal, da die Lieder ein Stück unsers Christlichen Bekenntnisses und öffentlichen Gottesdienstes sind."

So schrieb der Königlich-Preußische Konsistorialrat, Propst und Inspektor zu Berlin J o h a n n  P o r s t (AD 1668-1728) (2), Verfasser des nach ihm benannten Gesangbuchs ,,Geistliche und Liebliche Lieder, welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhardt, und andere seine Werkzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekannt ... worden", am 1. August 1727 in dessen Vorwort. Und so haben die Brandenburger in der Tat mehr als ein Jahrhundert lang ,,in der Kirche und zu Hause" daraus gesungen.

Auf drei Bücher - und in der Regel selten mehr - gründete sich die religiöse Daseinsvorsorge des gemeinen Protestanten: die Bibel, den Katechismus und das Gesangbuch; hinzu kam gelegentlich ein Andachtsbuch. Die Bibel wurde ihm vom Pastor in der Predigt ausgelegt, der Katechismus in der Schule vom Lehrer eingebläut, das Gesangbuch aber war nicht nur in Kirche und in Schule, sondern auch daheim der alltägliche Begleiter und die Grundlage seines Glaubens, die Ubersetzung von Bibel und Katechismus in seine Welt(3),

,,Damit der arm gemeine Mann

Könt desto leichtlicher verstahn

Was jeds Evangeli zwar

In sich begreiffen thut für lahr:

Und wie er ihm dasselb sol machen

Zu nutz und trost in allen sachen."

Die Lieder seines Gesangbuchs sang man, zumal der Analphabet, oft auswendig, erbaute und tröstete sich mit ihnen in guten wie in bösen Tagen. Deshalb enthielt es neben den Liedtexten selbst auch jene des Bekenntnisses, Gebetsformulare und Andachten für alle Lebenslagen. Dem Alltag der Frommen gewidmet, beherrschte das Gesangbuch diesen bis zum Ende des bürgerlichen Zeitalters. So selbstverständlich dies den Zeitgenossen war, so verborgen ist heute der von Theologen vielgerühmte ,,Sitz im Leben" des evangelischen Gesangbuchs und so bruchstückhaft nur erforscht (4). Nur gelegentlich liest man beiläufig etwas vom alltäglichen Gebrauch des Gesangbuchs. So berichtet etwa der Schleswiger Schulrektor Georg Friedrich Schumacher (AD 1771-1852) aus seiner Kindheit(5):

,,Unsre Bibliothek bestand aus einem alten aus dem Englischen übersetzten allegorischen Andachtsbuch ... einer Sammlung von Erzählungen plötzlicher Bekehrungen, besonders an Kindern ... und dem Gesangbuch aus der Zeit (des dänischen Königs) Friedrichs V., worin 1000 Gesänge sind. Diese las ich, verstanden oder nicht, davon war nicht die Rede ... So viel erinnere ich sehr lebhaft, daß ich mit einer Art von Triumph zu meiner Mutter kam, um ihr zu sagen, daß ich alle tausend Gesänge nun durchgelesen habe."

Ergreifend ist das Zeugnis des Kätnersohns Jürnjakob Swehn, der 1868 aus einem mecklenburgischen Dorf nach Amerika auswanderte und als alter Mann seinem Lehrer berichtete(6):

,,Das sind die alten, frommen Lieder, die wir bei dir in der Schule gelernt haben. Siehe, sie sind mit uns über das große Wasser gefahren. Auf dem Ochsenkarren sind sie mit uns in den Busch gezogen und im Blockhaus haben sie bei uns gewohnt. Sie sind verdeckt gewesen unter Schweiß und Arbeit, aber sie sind wieder aufgewacht. Sie sind mit uns ins neue Haus gezogen, und jetzt spielen unsre Kinder sie auf der Orgel, und wir singen sie abends zur Andacht: Ach, Herr, laß dein lieb Engelein - weißt du, was so hoch anfängt! Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden. Schreib meinen Namen aufs beste. Laß mich diese Nacht empfinden. Soll diese Nacht die letzte sein - und die andem all. Und unsere Kinder beten auch die alten Verse, die wir in der Schule gebetet haben."

Dass es mit der Liebe des gemeinen Mannes zu seinem Gesangbuch in Preußen zur Zeit des 1781 geführten Gesangbuchstreits nicht anders stand, kam dort offen zur Sprache, war sogar ein wesentliches Motiv der aufgeklärten und eben deshalb gescheiterten Gesangbuchreform (7):

,,Bei diesen Gesinnungen, mein Freund, ist mir jedes Buch, wodurch die größere Aufklärung der Religion befördert, und der praktische Einfluß ihrer Lehren in die Gemüther verstärkt wird, sehr wichtig. Urtheilen Sie daraus, wie äußerst interessant mir um so mehr unser neues Gesangbuch müsse gewesen sein, da die gute oder schlechte Beschaffenheit eines solchen Buchs, das in jedermanns Händen, das gewissermaßen die Bibel des gemeinen Mannes ist, zu den besseren oder schlechteren Religionsbegriffen des Volks so sehr viel beiträgt."

Mit der Neuschöpfung des Wortes ,,Gesangbuch" war die Sache selbst im Zeitalter der Reformation als eine eigene Schöpfung des Protestantismus entstanden (8). Man tut der katholischen Kirche kein Unrecht mit der Behauptung, dass erst die Reformatoren den Gemeindegesang als das ideale Medium ihrer Glaubensverbreitung entdeckt haben. Noch das Tridentinum fand zum Kirchengesang lediglich nebenher die Ermahnung zu Pflege und Studium des (Gregorianischen) Gesanges im Rahmen der Priesterausbildung, verlor dagegen kein Wort über den Gemeindegesang als solchen (9). Man tut aber auch Luther kein Unrecht mit der Feststellung, dass er nicht der einzige unter den Reformatoren war, der den Gemeindegesang für die Verbreitung seiner Botschaft entdeckt und gefördert hat. Lutherische wie Reformierte und Täufer hatten alle Gesangbücher und trugen, ein jeder auf seine Weise, zu deren dauerhafter Blüte bei (10). Die reformatorische Vielfalt prägte auch das protestantische Gesangbuch. Während der calvinistische Hugenottenpsalter ein Gesangbuch aus einem Guss war, musikalisch und textlich nur von wenigen verfasst, wurden die Gesangbücher der Täufer wie der Lutherischen Sammlungen von Liedem mehrerer Verfasser, im Laufe der Jahrhunderte ständig ergänzt durch dem Wandel der Frömmigkeit entsprechende Neuschöpfungen. Den von allen Seiten verfolgten Täufern ging es um Stärkung von Glaubensfestigkeit und Treue. Die lutherischen Gesangbücher dagegen wollten den friedlichen Alltag der Frommen in aller Breite prägen - und haben dies auch geschafft. Hier hatte das Landeskirchentum die lediglich regionale Verbreitung der Gesangbücher zur Folge, so dass ,,das" Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) erst im 20. Jahrhundert und dies nur bedingt entstehen konnte. Bis dahin waren Gesangbücher mehr oder minder erfolgreich verbreitete Privatschöpfungen, die zwar dem Gebrauch in der privaten Andacht frei standen, zu ihrer Verwendung im kirchlichen Gemeindegesang aber der obrigkeitlichen Privilegierung bedurften. Für Preußen schrieb diesen Grundsatz - womöglich auch in Reaktion auf den Gesangbuchstreit von 1781 - das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 fest II, 11):

,,§.46. Wegen der äußern Form und Feyer des Gottesdienstes kann jede Kirchengesellschaft dienliche Ordnungen einführen.

§.47. Dergleichen Anordnungen müssen jedoch dem Staate zur Prüfung, nach dem §.13. bestimmten Grundsatze, vorgelegt werden.

§.48. Nach erfolgter Genehmigung haben sie mit andern Polizeigesetzen gleiche Kraft und Verbindlichkeit.

§.49. Sie können aber auch ohne Genehmigung des Staats nicht verändert, noch wieder aufgehoben werden."

In der Schule auswendig gelemt und vom Untertan täglich zur Hand genommen, bestimmte das evangelische Gesangbuch den Alltag des Bürgers in Kirche, Schule und Haus. Das verlieh dem Berliner Gesangbuchstreit vom Jahre 1781 seine ungewöhnliche Schärfe.

II. Porsts Gesangbuch:

Kein Gesangbuch der Mark Brandenburg konnte und kann es bis heute an Lebensdauer und Beliebtheit mit ,,dem" Porst aufnehmen(11). Der Konsistorialrat Porst hatte sein Gesangbuch Anfang 1708 mit 420 Liedem anonym erscheinen lassen. Im Jahre 1712 wurde er zum Propst in Berlin ernannt und König Friedrich Wilhelm I. ließ ihn bei dieser Gelegenheit wissen, Gott selbst habe ihm, dem König, die Berufung ins Herz gegeben, dass Porst und kein anderer die Stelle haben sollte. Zur selben Zeit (1712) erschien auch die endgültige Fassung des Gesangbuchs mit 906 Liedern. Ein königliches Privileg garantierte dem Verleger Schatz das Druckmonopol, das in der Folgezeit auf Antrag des Verlegers beziehungsweise seiner Erben alle 25 Jahre erneuert wurde. Hinfort beherrschte der Porst unter königlichem Wohlwollen Kirche und Haus der Brandenburger. Aber auch ihm erging es nicht anders als anderen Gesangbüchern: er wurde alt. Je deutlicher sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der allgemeine Stil- und Geschmackswandel abzeichnete, je mehr die Frömmigkeit an lutherischer Strenge verlor, um so älter wurde der Porst alt, und dies vor allem in den Augen jener, die im Zeichen von Rationalismus und Aufklärung auf Neues aus waren. So trafen nun den Porst dieselben Vorwürfe, denen sich auch alle anderen herkömmlichen Gesangbücher der Zeit ausgesetzt sahen, in Berlin besonders hart (12). lm Barockzeitalter hatten die Poeten und Liederdichter alle Silben als gleichwertig gezählt und nicht entsprechend ihrer Betonung, den Hebungen und Senkungen gewichtet. Das war nun anders geworden, und die Lieder des 16./ 17. Jahrhundert schienen den Neuerern schon aus diesem Grunde veraltet zu sein. Auch die durch die gleichrangige Silbenzählung bedingten barocken Wortverstümmelungen, Längungen wie Kürzungen - Nam' statt ,,Namen", Märtrer statt ,,Märtyrer", errett statt ,,errettet", Fürsprech statt ,,Fürsprecher"‘ — konnten vor dem strengen Forum der modernen Stilisten nicht länger bestehen. Diese beklagten auch, die Alten hätten es mit den Reimen nicht genau genug genommen und sich überhaupt allzu viele Freiheiten im Umgang mit der Sprache herausgenommen. Kritik erfuhren auch die veralteten Worte, die nun niemand mehr verstand, lateinische Fremdworte, vor allem aber auch solche, die einen Bedeutungswandel erfahren hatten. Der ,,Abtritt" im alten weiten Sinne von ,,Weggang" war auf die Bedeutung von ,,Abort" geschrumpft, und auch das Wort ,,Freudenhaus" war nicht länger als Gegenteil von ,,Trauerhaus‘" verwendbar. Die Sitten hatten sich verfeinert, und so schien nun auch der gröbere Wortschatz Luthers unerträglich. Der Reim ,,Lass den Besen wahrer Buß’ / kehren aus den Mist und Ruß" wirkte nun nur noch peinlich.

Auch inhaltliche Kritik meldete sich zu Wort. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Religionskämpfe wollte man nicht länger wütend auf die anderen Konfessionen dreinschlagen und strebte friedlichere Umgangsformen an. Gegen solche Kritik ließ sich auch seitens der konservativen Gesangbuchfreunde nichts einwenden. Die Kritiker aber machten daraus ein Motiv für die von ihnen angestrebte umfassende Gesangbuchreform und fragten, ob denn diese Peinlichkeiten der altmodischen und verschrobenen Lieder nicht die wesentliche Ursache des abnehmenden Kirchenbesuchs seien. Neue Lieder und Gesangbücher mussten her!

War die Forderung einer Anpassung der Liedtexte an den Stilwandel der Zeit berechtigt und überall in Deutschland zu hören, kam bei der Kritik am Porst noch ein weiteres Motiv hinzu und dies um so mehr, je heller das Licht der Aufklärer in den Köpfen der Berliner zu leuchten begann. Porsts Gesangbuch war aus dem Geist des von Philipp Jacob Spener (AD 1635-1705) verkündeten Hallischen Pietismus und verinnerlichter Frömmigkeit entstanden. Keine Sorte von Frommen aber war den nun aufsteigenden Propheten der Aufklärung (13) so verhasst, wie eben die Pietisten. Ihnen warfen die Berliner ,,Neologen" jede nur erdenkliche Charakterschwäche und Schuftigkeit vor. Verlogen und heuchlerisch stellten die Aufklärer sie als den Inbegriff allen Übels dar. Unter diesem Hass musste mehr als die anderen herkömmlichen Gesangbücher der Porst leiden. Gegen ihn vor allem und seinen verheerenden Einfluss auf Geist und Glauben des gemeinen Berliners musste der Angriff eröffnet, diese Festung aller Unvernunft gründlich geschleift werden.

Dabei kann man nicht bestreiten, dass die Pietisten mit ihren Liedern den Aufklärern eine offene Flanke darboten. Ihre lnnerlichkeit war geprägt von einer bis ins Mittelalter zuruckreichenden, im Protestantismus seitdem nie ausgestorbenen Jesusmystik. Sie hatte als besonderes Glaubenszeugnis, beispielsweise in dem Choral ,,Wie schön leuchtet der Morgenstern", bleibende und ergreifende Spuren in den Gesangbüchem und der Geschichte protestantischer Frömmigkeit gezogen, war nun aber in schwülstige Gefühlsseligkeit abgeglitten. Zwar hatte Porst die besonders inbrünstigen Lieder des Grafen Zinzendorf (AD 1700-1760) in sein Gesangbuch noch nicht aufnehmen können. Ihn und seinen Kult der ,,Seitenhöhlchen" Jesu - ,,In seiner Wunden Höhlchen / berg ich mein armes Seelchen" - sollten sich die Berliner Aufklärer erst in den Achtzigerjahren als Opfer ihres Spotts genussvoll vornehmen. Aber auch der vorherrenhutische Pietismus bot manches, was man gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur noch als peinlich und geschmacklos belachen konnte. Die Kritik der Aufklärer an Porst war somit keine spontane Erfindung des Jahres 1780, sondern anscheinend von langer Hand vorbereitet. Das lässt eine Fußnote in dem Bestseller der Aufklärungsliteratur erkennen: des Berliner Verlegers und Buchhändlers Christoph Friedrich Nicolai (AD l733—l811) (14) Roman ,,Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker" vom Jahre 1773 (15). In dieser Abrechnung mit den Pietisten findet sich in Ergänzung zu dem ausführlich zitierten und kritisierten pietistischen Erweckungslied

,,Zu spät ists zu erfahren, was Höll und Ewigkeit,

ach! willst du’s darauf sparen, thu’s nicht, heut ists noch Zeit.

Bekehre dich von Herzen, daß du der Qual entgehst,

denk, dann giebt es nicht Scherzen, wenn du vorm Richter stehst."

eine FuBnote (16):

,,Der Leser glaube nicht etwan, daß ein solches Lied zu Behufe dieses Gesprächs erdichtet worden. Er darf auch nicht glauben, daß es etwan ein unbedeutender Schwärmer für den Winkel eines fanatischen Conventikels verfertigt habe. Nein! dieß Lied steht S. 792. eines, in die evangelisch-lutherische Kirchen in der Churmark, unter öffentlicher Autorität eingeführten Gesangbuchs, betitelt: Geistliche und liebliche Lieder, welche der Geist des Glaubens durch D. M. Luther, Johann Hermann, Paul Gerhardt und andere seiner Werkzeuge, in den vorigen und itzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in den Kirchen und Schulen der Königl. Preuß. und Churf. Brandenb. Lande bekannt u. s. w. herausgegeben von Johann Porst, Königl. Preuß. Consistorialrath, Probst und Inspector zu Berlin. Gedruckt zu Berlin in 12."

Mit Genuss zitierte Nicolai sodann (17) eine Kostprobe der modenen Jesusminne und konnte des Beifalls seiner aufgeklärten Freunde gewiss sein:

,,Denn ich will stets ein Bienelein

Auf des Lammes Wunden seyn

und fahren so in’n Himmel nein."

Ihm war es keine Frage, dass der Kampf gegen die Pietisten und den ebenso albernen wie schädlichen Einfluss des Porst überfällig war und auch mit Erfolg zu Ende gefochten werden würde.

III. Berliner Aufklärung:

Einen besseren Austragungsort für den Angriff auf den anscheinend bereits halbtoten Porst als Berlin hätten die Aufklärer nicht finden können. Sie genossen das uneingeschränkte Wohlwollen des alten Königs. Nirgends sonst als in Berlin konnten sie so unbekümmert und ungestraft ihre aufklärerischen Ansichten verkünden. Es herrschte in Berlin eine Meinungsfreiheit, um die man die dortigen Aufklärer andernorts beneidete. Man konnte dort auch die abwegigsten Ansichten frei und öffentlich verkünden, so lange man nicht den Staat selbst angriff. Dass diese ungewöhnlich weit reichende Freiheit auch den Gegnern der Aufklärer, Orthodoxen wie Pietisten, zustand und auch von ihnen in Anspruch genommen werden konnte, stand auf einem anderen Blatt und schien derzeit für die sich im Glanze königlichen Wohlwollens sonnenden Aufklärer nicht von Bedeutung zu sein. Um Friedrich Nicolai geschart, machten die Berliner Aufklärer im ganzen Reich viel von sich reden. Mit der ,,Allgemeinen deutschen Bibliothek" (1765-1796), später auch der ,,Berlinischen Monatsschrift" (1783 - l811 ) verfügten sie über weithin wahrgenommene Medien. ln der Berliner ,,Mittwochsgesellschaft (18) trafen sich die klügsten Köpfe der Neologie und trugen einander ihre ldeen und Pläne vor. Diese bürgerlichen ,,Geschäftsmänner" wollten Preußen ,,von oben‘" reformieren, nicht aber revolutionieren. Dabei fanden sie jedoch mit der, nach ihrem Dafürhalten jedem Vernünftigen einleuchten müssenden, Botschaft auch in Berlin nicht den erhofften Erfolg. Horst Möller zog 1974 den Schluss (19):

,,Allerdings vermochten auch sie es nicht, die Basis der Aulklärung in Deutschland beziehungsweise in Preußen so entscheidend zu erweitem, wie es für eine intensive Breitenwirkung erforderlich gewesen wäre."

Außerhalb Berlins von manchem bewundert und beneidet, waren die Berliner Aufklärer sich ihrer geradezu sektenartigen Begrenztheit wohl bewusst. Auch in der preußischen Hauptstadt waren sie eine kritisch beäugte Minderheit, die sich nach innen um so fester zusammenschloss, je lauter sich die Kritik an ihnen meldete. Zwar war unter der Regierung des Großen Friedrich die aufgeklärte Welt Berlins noch in Ordnung, doch sollte es nicht mehr lange dauern, bis ihnen von außen der politische Gegenwind hart ins Gesicht blasen und innerlich Selbstzweifel ihnen zusetzen sollten(20). Nur drei Jahre nach Ausbruch des Gesangbuchstreits ließ 1784 der aufgeklärte Adolph Freiherr von Knigge einen Skeptiker sagen (21):

,,Sie wollen Aufklärung befördern? Sehen Sie selbst ganz klar? Haben Sie auch genug abgewogen, welchen Grad von Aufklärung jeder Mensch vertragen kann? Meinen Sie, das alles hätten andre Menschen nicht schon vor lhnen durchgedacht? ... Armer, gutherziger Mann! Wie weit sind Sie noch zurück! Und endlich, wenn auch alle diese Zwecke zu erlangen wären, so würde doch die Maschine, mit welcher man dies große Werk regierte, so complicirt seyn müssen, daß selbst in dieser Composition der Keim der Vergänglichkeit liegen würde."

Und Moses Mendelssohn, das Schoßkind der Berliner Aufklärer, notierte im gleichen Jahr 1784(22):

,,Je edler ein Ding in seiner Vollkommenheit, sagt ein hebräischer Schriftsteller, desto grässlicher in seiner Verwesung. ... So auch mit Kultur und Aufklärung. Je edler in ihrer Blüte, desto abscheulicher in ihrer Verwesung und Verderbtheit."

1780 jedoch lebte der alte Friedrich II. noch, und so konnten sich die Berliner Aufklärer wohl der Hoffnung hingeben, dass es ihnen unter seinem Schutz gelingen werde, das Porstische Gesangbuch wenn nicht gleich aus den preußischen Häusern, so doch vorerst aus den preußischen Kirchen zu verbannen.

(...)

(Auszug ebd. S. 211-220)

 

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