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3. Teil: Die Versuchung der Assimilation

17. Kapitel: Ein Jude als patriotischer Parvenü

Aber eine der unsinnigsten Sachen auf diesem Erdenrund ist die ernste Behandlung der Schuldfrage, so scheint es mir wenigstens. Nicht daß Vorwürfe gemacht werden, scheint mir unsinnig, gewiß, wenn man in Not ist, macht man Vorwürfe nach allen Seiten (trotzdem das allerdings nicht die äußerste Not ist, denn in dieser macht man keine Vorwürfe), auch daß man sich solche Vorwürfe zu Herzen nimmt in einer aufregenden und alles aufrührenden Zeit, auch das ist begreiflich; aber daß man darüber verhandeln zu können glaubt, wie über irgendeine gewöhnliche rechnerische Angelegenheit, die so klar ist, daß sie Konsequenzen für das tägliche Verhalten ergibt, das verstehe ich gar nicht. Gewiß bist Du schuld, aber dann ist auch Dein Mann schuld und dann wieder Du und dann wider er, wie eben bei einem menschlichen Zusammenleben es nicht anders sein kann, und die ScHuld häuft sich an in unendlicher Reihe bis zur grauen Erbsünde, aber was kann es mir für meinen heutigen Tag oder für den Besuch beim Ischler Arzt nützen, in der ewigen Sünde herumzustöbern?

Franz Kafka, Briefe an Milena

Bleichröders Aufstieg ging so rapid und außergewöhnlich vonstatten wie jener Deutschlands und war ebenso vergänglich. Die Laufbahn Gerson Bleichröders ist wie ein Spiegel der tiefgreifenden Entwicklungsprozesse der zwei Welten, denen er angehörte - der einen von Geburt, der anderen aus verzweifeltem Verlangen: Jude von Abstammung, Deutscher aus eigener Entscheidung. Jahrelang glaubte er, daß er beides vereinen könne, dass eine persönliche, sich lockernde Verbindung zur Welt der Juden mit seiner öffentlichen und immer bedeutenderen Rolle in der Welt der Deutschen nicht unvereinbar sei. Tatsächlich hatten sich in seinen mittleren Lebensjahren die deutsche und die jüdische Gesellschaft zu dem seit Jahrhunderten ruhigsten, am wenigsten gestörten Einvernehmen zusammengefunden; im vorgerückten Alter erlebte er die erste organisierte Absage an dieses Einvernehmen, und gerade sein Erfolg wurde als Rechtfertigung der Absage verwertet.

Die Geschichte des Aufstiegs Deutschlands im 19. Jahrhundert ist be­kannt. Nach Jahrhunderten der Spaltung war die Nation geeint - von oben - und ihre Geburt unlösbar mit dem Willen ihrer Führer verfloch­ten, die Wesenheit autoritärer Herrschaft zu bewahren. Die kaum zusam­mengeschlossene Nation wurde von den Kräften der Neuzeit, vom vollen Ansturm des industriellen Kapitalismus gespalten, der die traditionell herrschenden Klassen wirtschaftlich in Gefahr brachte und das Bürger­tum den ansteigenden Sozialismus fürchten ließ. Bismarck und Bleich­röder waren die symbolischen und funktionellen Vertreter eines Systems, das die alten Klassen stützen wollte, indem es sie wirtschaftlich schützte und den Supremat ihrer Werte und ihres Lebenskodex erneut bestätigte, und anderseits versuchte, einen bereits verschüchterten Mittelstand sei­nes politischen Willens zu berauben. Der in den Adelsstand erhobene Bleichröder strebte keinen individuellen patrizischen Lebensstil, an, son­dern wurde zur plutokratischen Kopie eines Vertreters der alten Feudal­kaste; sie verdankte ihm viel, nahm aber Anstoß, weil er als Geldaristo­krat nicht „echt“ war.

Das deutsch-jüdische Einvernehmen ist typisch für den Weg, den die deutsche Gesellschaft im 19. Jahrhundert einschlug, der sich aber deut­lich von der Entwicklung in Frankreich, Großbritannien und den Nieder­landen abhebt. Die Gleichstellung wurde den Juden ungern gewährt, und die sie ihnen zugestanden, nahmen als selbstverständlich an, daß die Juden, ohnedies tiefer stehend als die Christen, sich moralisch heben wür­den, vorzugsweise durch Bekehrung zum Christentum; sie konnten aber nicht wissen, daß das Fallen der Barrieren zur schnellen Umwandlung verhältnismäßig geschlossener Gruppen in dynamische Gesellschafts­schichten führen würde, wo sich ungezählte Möglichkeiten eröffneten und neuer Reichtum alte Privilegien in Frage stellen sollte. Die Emanzi­pation beseitigte Schranken, aber die Modernisierung der Gesellschaft, die plötzlichen Chancen, durch Bildung und Besitz zu Rang und Würde zu gelangen, gaben den Juden die unerwartete Gelegenheit des Sprungs nach vorn. Die Juden in Deutschland profitierten wie die Deutschen von den Möglichkeiten, sich sozial und gesellschaftlich zu verändern; dies bedeutete für manche Freiheit, für andere schwere psychische und gesell­schaftliche Erschütterungen. Da die Juden sich in der Wirtschaft hervor­taten, kamen die Gruppen der Benachteiligten oft aus direkten Erfahrun­gen oder im Wettbewerb mit jüdischen Kaufleuten oder Geldverleihern auf die frühere Erwartung einer moralischen Hebung zurück. Seit Mitte der 70er Jahre behaupteten Lästerzungen, daß die Juden, weit entfernt, sich „gebessert“, d. h. sich „deutschem Wesen“ angeglichen zu haben, die Deutschen auf ihr Niveau herabgezogen und sie mit ihrer materialisti­schen Denk- und Handlungsweise infiziert hätten. Ab Mitte der 1870er Jahre erklärten neue Antisemitengruppen den Juden zum Symbol und  Profitmacher der Neuzeit, des Liberalismus und Kapitalismus. Weil der deutsche Liberalismus schwächer war und sich ideologisch von seinen westlichen Gegenstücken unterschied, weil das deutsche Bürgertum nie das Selbstvertrauen und die historische  Bedeutung der französischen oder britischen Bourgeoisie erreichte, ergab es sich für die jüdische Gemeinschaft,  daß sie keinen liberalen Schild hatte, der ihre Rechte als einen Teil eines universell anerkannten Kodex der Menschenrechte geschützt hätte. Die noch bestehende moralische Macht einer verarmten und habgierigen Klasse von Kriegern und Agrariern befrachtete den Begriff „Geld“ schwer mit  Heuchelei und Tabus – mehr als in anderen Ländern, wo ähnliche Anschauungen in etwas gewandelter Form ebenfalls bestanden. Beschäftigung mit Geld ist nichts Erhebendes, aber seine Wichtigkeit zu leugnen oder sich nach einer idyllischen Vergangenheit zu sehnen, allwo Ehre und Tugend, nicht Geld den Rang bestimmten, ist eine hübsche, aber gefährliche Selbsttäuschung, wie der Fall Deutschland  zeigt. Seit den 1880er Jahren nahm der deutsche Nationalismus einen aggressiven, fremdenfeindlichen Charakter an; er war intoleranter gegen  Pluralismus oder Minoritäten, die seßhaft waren und zugleich besondere Bindungen an ihre Stammländer hatten, als der  illiberale Nationalismus anderswo. Andere Länder hatten ähnliche Propheten eines illiberalen Nationalismus, aber ihre deutschen Entsprechungen fanden in den führenden Gesellschaftsschichten eine größere Resonanz als sonstwo. 1*

Dies sind einige der historischen Kräfte, die Bleichröders Zeit und sein Leben formten. Er war sich dieser größeren Verästelungen seiner Laufbahn wohl nur unbestimmt bewusst; nur wenige wissen um die Strömungen, die ihre Zeit beherrschen. Bleichröders Blick war mit Ausnahme des finanziellen Bereichs nicht schärfer als der der meisten seiner Zeitgenossen. Er war schlecht gerüstet, die besonderen Umstände und Kräfte zu verstehen, die das deutsch-jüdische Leben im allgemeinen gestalteten. Er konnte nicht begreifen, warum die Deutschen ihre Juden bald so, bald anders behandelten; wohl kein anderes Volk vermengte Freundlichkeit und Feindseligkeit auf so verwirrende Art und Weise. **

Bleichröder war der Bankierfürst Berlins; er stieg zu Höhen auf, die kein Jude vor ihm und wenige Bürgerliche erreicht hatten. Umgeben von Respekt, Kriecherei und heimlicher Schmähung, wurde er überall in der Gesellschaft empfangen - sozusagen durch den Hintereingang. Da er die Vergangenheit und die problematische Gegenwart nicht erfaßte, konnte er unmöglich die Zukunft vorhersehen. Er tat, was die meisten tun: er nahm die Gegen­wart als Garanten der Zukunft; er sah eine immer leichtere Verschmel­zung und Aufnahme der Juden in die Gesellschaft vor sich; wenn nötig, würde der Staat die Juden schützen. Grund für Optimismus war in den 1860er und 1870er Jahren: die Zukunft gehörte der Integration und Assi­milation - von Juden seiner Art, die der Staat mit der Nobilitierung be­lohnte. Judenhatz war ein Relikt der Vergangenheit, ein unseliger Ana­chronismus. 2 Die historischen Bedingungen seines Lebens zu begreifen, war Bleichröder unfähig, und seine eigene subjektive Erfahrung wußte er wohl nur teilweise zu verstehen.

Du bist gleichberechtigt, sagte das Gesetz. Du bist mehr als das, sagte sein Adelspatent, das ihm Bismarck und Wilhelm I. verliehen. Du bist weniger als gleichberechtigt, sagte die Welt der Aristokratie und wisperte hinter seinem Rücken Dinge wie «dreckiger Jud ... Judengeld ... Talmudweisheit ... Judenschwein ... jüdischer Geldprotz ... pommerscher Felljud» 3. Du bist keiner von ihnen, sagte seine innere Stimme; du und dein Volk sind minderwertig für die Menschen, unter denen du lebst - und doch bist du ihnen an Intelligenz, Scharfsinn, Gewandtheit und mit deiner harten Arbeit überlegen. Die Christen dachten an Gottesmord und Got­tesfrevel; sein eigenes Selbst, das die Anerkennung erstrebte, hatte noch Bruchstücke des Glaubens, daß die Juden trotz allem das auserwählte Volk Gottes seien. Über eines waren sich Juden und Deutsche der Zeit einig: eine Welt der Andersartigkeit lag zwischen ihnen, und die gesetz­liche Bestätigung der Gleichberechtigung verstärkte nur die Unbehag­lichkeit des Verkehrs miteinander.

Manche Juden empfanden dieses Unbehagen stärker als andere. Mitte des Jahrhunderts zogen die meisten der halben Million Juden in Deutschland es immer noch vor, in einem unsichtbaren Getto zu leben; sie hausten nah zusammen, sie arbeiteten zusammen, sie heirateten untereinander. In der Ära der legalisierten Gleichberechtigung - die letzten Einschränkungen waren 1869 gefallen - und zunehmenden Assimilation wagten ich die Juden allmählich über den unsichtbaren Trennungsstrich hinaus und betraten die Welt der Christen in Schulen und Universitäten, als Kaufleute, Wehrdienstpflichtige, als Ärzte und Wissenschaftler, Ban­kiers, Journalisten und Rechtsanwälte.

Die Person Bleichröder steht für einen bedeutsamen Zeitpunkt in der verwirrten, tragischen Geschichte der Deutschen und der Juden. Das Leben des in vorderster Reihe stehenden kommerziellen Juden seiner Zeit demonstriert, welche Höhen Juden anstreben konnten, zeigt aber auch die Mühe und Gefährlichkeit des Aufstiegs. Bleichröder, der Freund Bismarcks, Briefpartner von Königen, Finanzier großer Unternehmen und Retter verarmter Aristokraten, ist der Beweis, wie gewinnbringend deutsch-jüdische Koexistenz für beide Teile sein konnte. Seine Leistun­gen wie seine gesellschaftlichen Erfolge waren märchenhaft. Er eroberte sich einen Grad von Anerkennung und Bedeutung, der in der Geschichte des deutschen Judentums ohne Beispiel ist. Er war die Personifizierung der Möglichkeiten des Erfolgs und der Integration. Die Geschichte einer Gemeinschaft läßt sich aber nicht nach den Äußerlichkeiten des Verhaltens oder nach Erfolgen schreiben, am allerwenigsten die der deutschen Judenschaft. Das Wesentliche bleibt die Gesinnung der Menschen, ihre Geisteshaltung, ob bewußt oder unbewußt, ob stumm oder ausgespro­chen. Als sich Bleichröder aus seinem gettoartigen Herkommen bis zur Nobilitierung erhob, veränderten sich auch sein Denken und Handeln: wie so viele seiner Mitjuden entwickelte er die intensivste Loyalität dem Staat gegenüber, der Gunst vergab und forderte. Dem Staat bewies er, daß Juden außergewöhnlich nützlich, fast eine Art Ersatzbourgeoisie sein können. Für ihn war der Staat auch Schutz vor antisemitischen Wegelage­rern.*** (...)

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* Einige dieser Gedanken habe ich in einem Essay "The Burden of Success: Reflections on German Jewry"  weiterentwickelt, in Art, Politics, and Will. Essays in Honor of Lionel Trilling, hrsg. von Quentin Anderson, Stephen Donadio und Steven Marcus, New York 1977.

** In einem in den 1880er Jahren unter dem Pseudonym Comte Paul Vasili in Paris erschienenen Buch, das allgemein der Prinzessin Katharina Radziwill zugeschrieben wird, ist ein Kapitel "M. von Bleichröder und den Geldfürsten" gewidmet und beginnt so: "Berlin ist nicht Paris. In der Hauptstadt des neuen Deutschland existieren wie in Rußland noch Vorurteile, die in Frankreich seit langem verschwunden sind. Zu diesen Vorurteilen muß man einen gewissen Widerwillen rechnen, einem Juden im Beisein anderer die Hand zu geben oder ihn in seinem Haus zu besuchen oder ihn mit eigenen zu empfangen. Ich sage absichtlich "im Beisein anderer", weil in der Intimität eines tête-à-tête sich alle diese kleinen Skrupel in nichts auflösen. Es gibt keine Stadt auf der ganzen Welt, wo die Kinder Israels von der Gesellschaft mehr zurückgestoßen werden und wo diee Gesellschaft sie eifriger ausnützt." Comte Paul Vasili, La société de Berlin, Paris 1884, S. 152 f.

*** Ludwig Börne äußerte sich schon 1832 so: «Ich wäre ja nicht wert, das Licht der Sonne zu genießen, wenn ich die große Gnade, die mir Gott erzeigt, mich zugleich ein Deutscher und ein Jude werden zu lassen, mit schnödem Murren bezahlte - wegen eines Spottes, den ich immer verachtet, wegen Leiden, die ich längst verschmerzt ... Ja, weil ich als Knecht geboren, darum liebe ich die Freiheit mehr als ihr. Ja, weil ich die Sklaverei gelernt, darum verstehe ich die Freiheit besser als ihr. Ja, weil ich in keinem Vaterlande geboren, darum wünsche ich ein Vaterland heißer als ihr, und weil mein Geburtsort nicht größer war als die Judengasse und hinter dem verschlossenen Tore das Ausland für mich begann, genügt mir auch die Stadt nicht mehr zum Vaterlande, nicht mehr ein Landgebiet, nicht mehr eine Provinz; nur das ganz große Vaterland genügt mir, soweit seine Sprache reicht .. Ihr habt den Juden die Luft genommen; aber das hat sie vor Fäulnis bewahrt. Ihr habt ihnen das Salz des Hasses in ihr Herz gestreut, aber das hat ihr Herz frisch erhalten. Ihr habt sie den ganzen langen Winter in einen tiefen Keller gesperrt und das Kellerloch mit Mist verstopft; aber ihr, frei dem Froste bloßgestellt, seid halb erfroren. Wenn der Frühling kommt, wollen wir sehen, wer früher grünt, der Jude oder der Christ." Ludwig Börne, Vierundsiebzigster Brief aus Paris, Dienstag, den 7. Februar 1832, in Sämtliche Werke, hrsg. von Inge und Peter Rippmann, 5 Bde Düsseldorf 1964, Bd.3, S. 511f.

 

(Auszug aus dem 3. Teil: Die Versuchung der Assimilation, 17. Kapitel: Ein Jude als patriotischer Parvenü, ebd., S. 635-641)

 

C.H.Beck

Verlag C.H.Beck
Stern, Fritz: Gold und Eisen. Bismark und sein Bankier Bleichröder. Aus dem Englischen von Otto Weith. München: C.H.Beck 2008. 861 S.: mit 38 Abbildungen. Paperback; ISBN 978-3-406-56847-3
Stern, Fritz: Gold und Eisen. Bismark und sein Bankier Bleichröder. Aus dem Englischen von Otto Weith. München: C.H.Beck 2008. 861 S.: mit 38 Abbildungen. Paperback; ISBN 978-3-406-56847-3