Ursprünge der Kunst
Die vorgeschichtliche Zeit
Somit hebt sich der Vorhang der Kunstgeschichte erst einige Zeit nach ihrem Beginn. Inwieweit die erhaltenen Bildhauerarbeiten überhaupt für die Kultur typisch sind, aus der sie stammen, können wir nicht feststellen. Man fand sie über ein riesengroßes Gebiet Europas und Südrusslands verstreut und im Vergleich zu Werkzeugen und Geräten - darunter eindrucksvoll gearbeitete Flintsteine von schematischer Form - verständlicherweise selten.
Die Kunst der Jäger
Eine sehr beschädigte, wohl ursprünglich etwa 43 cm hohe Elfenbeinstatuette eines Mannes 1.3 aus der gleichen Zeit wie die Venus von Willendorf wurde bei Brünn in der Slowakei im Grab eines offensichtlich bedeutenden Mannes gefunden, der mit reichem Schmuck bestattet worden war. Der Körper ist schematisch dargestelt, der Kopf jedoch mit kurz geschorenem Haar und tief eingefallenen Augen naturalistisch wiedergegeben. Ob es sich um ein Porträt, ein Symbol oder um das Abbild eines übernatürlichen Wesens handelte, muss offen bleiben. Aber durch den Fundort wird deutlich, dass die Statuette im Rahmen eines Beerdigungsritus verwendet worden war, der religiösen Glauben voraussetzt. Die im Grab des Mannes aus Brünn gefundenen Gegenstände dienten eindeutig dem Schmuck seiner Person - also einem anderen menschlichen Impuls, der mit den Künsten eng verknüpft ist, wenn wir auch nicht abschätzen können, inwieweit ästhetische oder magische Gesichtspunkte die Auswahl bestimmen. Ein kleiner Elfenbeinkopf aus Brassempouy 1.2 zeigt, dass die Frauen ihr Haar schon damals flochten. Bei anderen kleinen Elfenbein- und Knochenschnitzereien finden sich Anzeichen dafür, dass sie als Anhänger oder in Beuteln am Körper - vielleicht als Amulett - getragen worden sind. Unter ihnen gibt es einige bemerkenswert gut beobachtete Tiere 1.4; 5, die zusammen mit anderen ebenso fein gearbeiteten Stücken aus gebranntem Ton in der Vogelherdhöhle auf der Schwäbischen Alb gefunden wurden (jetzt im Institut für Urgeschichte der Universität Tübingen). Wesentlich größer, ja wirklich imponierend, ist die erste echte Reliefskulptur 1.6.
Sie wurde 1911 in einem Felsunterschlupf in der Nähe von Laussel im Tal der Dordogne entdeckt, unweit der Höhlen von Lascaux 1.7; 9; 10; 12. Wenn man sie vor Ort aus einer leichten Untersicht betrachtet, wirkt diese bemerkenswerte Skulptur höchst plastisch: Die Wölbung der Schwangeren entspricht dem bauchigen Profil der Felsoberfläche, als sei es dem Bildhauer darum gegangen, eine darin wahrgenommene menschliche Gestalt herauszuarbeiten. Der Kopf existiert heute nicht mehr, doch offensichtlich war er im Profil dargestellt und blickte auf die erhobene rechte Hand, in der sich ein Bisonhorn befindet. Die linke Hand ruht auf dem Bauch und deutet auf den anschwellenden Schoß. Dies und vor allem das Bisonhorn, das sichelförmig ist wie der Mond und mit seinen dreizehn Kerben möglicherweise auf die Mondphasen hinweist, machen diese Figur zu einem wesentlich komplexeren Gebilde als die Venus von Willendorf oder andere frühe Fruchtbarkeitsdarstellungen. Die Jäger dürften gewusst haben, dass das Wachstum von Hörnern und Geweihen mit dem Geschlechtszyklus von Tieren im Zusammenhang steht, und sie könnten das Horn als Verkörperung der Fortpflanzungsfähigkeit und Fruchtbarkeit - und eher noch nicht als Füllhorn - betrachtet haben. Dass die Figur als Ganzes als ein Sinnbild für die lebensspendenden, nährenden und erneuernden Kräfte der Natur konzipiert wurde, scheint wahrscheinlich. Es könnte sich durchaus um die Darstellung einer Fruchtbarkeits- oder Muttergottheit handeln.
Wie die Venus von Willendorf, die Frau aus Brassempouy und die Tiere aus der Vogelherdhöhle ist auch die Muttergöttin aus Laussel naturgetreu dargestellt. Dieser Naturalismus überrascht an der prähistorischen Kunst am meisten. Er wird sogar noch deutlicher bei den Tieren der Höhlenmalerei, die visuell und nicht konzeptionell wiedergegeben sind. Das bedeutet, dass sie im Gegensatz etwa zu Kinderzeichnungen darauf beruhen, was das Auge sieht und nicht, was das Bewusstsein weiß. Man kann nur vermuten, dass ihre ursprüngliche Zwecksetzung in irgendeiner Weise mit ihrer Naturtreue in Verbindung gestanden hat. Noch ungewöhnlicher ist, dass zur selben Zeit in der gleichen Region eine Symbolkunst gepflegt worden ist.
Diese Periode wird Jungpaläolithikum, Jüngere Altsteinzeit, genannt. Als man sich im 19. Jahrhundert des langen Zeitabschnitts bewusst wurde, der den frühesten Schriftaufzeichnungen vorausging, übetrug man ein bereits zur Klassifizierung der Artefakte benutztes chronologisches System auf die Frühgeschichte des Menschen: Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Die Steinzeit wurde dann in Paläo-, Meso- und Neolithikum unterteilt, und diese wurden wiederum jeweils in Kulturen aufgeteilt, die man nach bedeutsamen Fundorten benannte. Dieses System wurde auch zur Charakterisierung der noch existierenden schriftlosen Kulturen Afrikas, Australiens, Asiens und Amerikas verwendet, was zu großer Verwirrung führte. In neuerer Zeit ist es durch die Radiokarbonmethode und durch andere wissenschaftliche Verfahren möglich geworden, sogar die ältesten Artefakte weitgehend präzise zu datieren. Dennoch werden die Begriffe des 19. Jahrhunderts weiterhin gebraucht.
Die Venus von Willendorf und der Mann aus Brünn sind Erzeugnisse einer Kultur des Jungpaläolithikums, die in einem Gebiet blühte, das sich vom heutigen Frankreich bis zum südlichen Russland erstreckte, und die "Ost-Gravettien" genannt wird. Ihre Schöpfer lebten am Rande der Vereisungsgrenze in einer Landschaft, die dem heutigen Grönland vergleichbar ist. Sie ernährten sich durch die Jagd auf Mammuts, Rentiere, Wölfe, Pferde, arktische Füchse und Moorhühner. Während des langen Winters sammelten sie sich in Dörfern nahe einer Quelle, und manche dieser Dörfer sind mehrere Jahrhunderte lang bewohnt worden. Die Hütten aus Lehm, Steinen oder Mammutknochen verfügten über mindestens eine Feuerstelle. Es gab bereits Werkstätten, in denen Gerätschaften aus Stein, Knochen und Elfenbein hergestellt wurden und wo man Ton brannte - Hinweise auf die Herstellung spezialisierter handwerklicher Tätigkeiten.
Die Höhlenkunst
Unser Wissen über die prähistorische Kunst beruht auf Werken, die durch Zufall erhalten geblieben sind und wieder entdeckt wurden. Es bleibt offen, wie typisch oder wie außergewöhnlich diese Zufallsfunde sind. Über eine Periode, deren immense zeitliche Erstreckung das Einzige ist, was mit Sicherheit feststeht - eine nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Zehntausenden von Jahren zählende Zeitspanne -, lassen sich aufgrund solcher Zufallsfunde keine Verallgemeinerungen treffen.
Als 1879 in Altamira in Nordspanien die ersten Beispiele prähistorischer Gemälde entdeckt wurden, verwarfen sie die meisten Archäologen als Fälschungen eines mit dem Eigentümer der Höhlen befreundeten Künstlers. Nur wenige konnten glauben, dass derart anschauliche Darstellungen von Tieren prähistorisch sein könnten. 1.11, und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde allgemein anerkannt, dass sie aus dem Paläolithikum stammen. Weitere Entwicklungen im "franko-kantabrischen Dreieck", das sich von Nordspanien nach Südwestfrankreich erstreckt und dessen Spitze vom Tal der Dordogne, vor allem bei Lascaux, gebildet wird, erlaubten eine ungefähre Datierung mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden: ca. 16 000-14 000 v. Chr. für Lascaux, ca. 14 000 v. Chr. für Altamira und ca. 13 000-12 000 v. Chr. für Niaux. 1.17
Die Höhle von Chauvet weist viele Gemeinsamkeiten mit denjenigen des franko-kantabrischen Dreiecks auf. Sie alle erstrecken sich Hunderte von Metern unter Tage, und die Malereien befinden sich meistens in den hintersten Winkeln, weit vom Tageslicht und jenen Höhlenvorplätzen entfernt, die wohl zum Wohnen dienten. In Niaux liegt die am kunstvollsten bemalte Kammer achthundert Meter tief, und die Besucher der Hauptkammer von Bédeilhac müssen sogar durch einen langen Durchgang kriechen. Die Pigmente, die in der Höhle von Chauvet benutzt wurden, waren roter Ocker und Holzkohle , ersterer vor allem für Bilder in der Nähe des Eingangs, letztere für die meisten Tierdarstellungen in den inneren Kammern, vor allem bei Pferden und Löwen. Manchmal wurden zunächst Linien in den Fels geritzt und dann mit Farbe ausgefüllt. In Lascaux sind die Bilder schärfer geritzt, sehr klein und dienen als Ergänzung der Malereien, außerdem wurde eine umfangreichere Farbpalette benutzt, die auf natürlichen Mineralien beruht - Rot, Gelb- und Brauntöne aus Ocker und Hämatit; Schwarz, Dunkelbraun und Violett aus verschiedenen Manganerzen. Diese Stoffe wurden zu Pulver gerieben und direkt auf die feuchte Kalksteinoberfläche aufgetragen. Zuerst wurden die Umrisse mit einem Pelz- oder Moosbausch, mit einfachen Pinseln aus Pelz, Federn oder einem weichgekauten Stock, auch einfach mit dem Finger an die Wand gemalt. Dann wurden sie farbig ausgefüllt, indem man das Farbpulver durch Röhrenknochen verstäubte (solche Röhren mit Farbspuren wurden in etlichen Höhlen gefunden). Häufig, aber nicht immer machten sich die Maler die natürliche Form der Höhlenkammern zunutze. So verwendete man eine große, etwa zehn Meter breite Fläche in der Höhle von Chauvet zur Darstellung einer immensen Ansammlung von Tieren, von denen die meisten dem Eingang einer anderen Kammer zugewandt sind. 1.14 Große, je fünf Meter lange Stiere wurden auf die Decke der ungewöhnlich geräumigen Großen Halle von Lascaux gemalt 1.7. An anderen Stellen finden sich weiträumige Höhlenkammern mit sehr wenigen Gemälden. Die Unregelmäßigkeiten der Felswände wurden mitunter geglättet, aber in der Regel ignoriert und manchmal bildnerisch genutzt, etwa in der Höhle von Chauvet, wo die Vordertatze eines Bären als Relief auf einen Vorsprung gemalt wurde. Ob die Höhlenmalerei dadurch entstand, dass ein Steinzeitjäger in den Ritzen und Adern, den Ausbeulungen und Vertiefungen der Felsoberflächen Bilder von Tieren sah - so wie wir selbst manchmal Bilder in den zufälligen Flecken auf einer alten Wand erkennen - muss offen bleiben. (...)
(Auszug aus Kapitel I.1. Ursprünge der Kunst. Die vorgeschichtliche Zeit, ebd., S. 28-35)