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Gastbeitrag 2008

Philosophische Verwicklungen in der Rechtswissenschaft: zur Geschichte des deutschen juristischen Denkens im 19. Jahrhundert

von Olivier Jouanjan

1. Einführende Überlegungen

Als Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung liegt das Recht nicht einfach so da, wie etwas Vorgegebenes vor dem erkennenden Subjekt. Konkret existiert nur eine unzählige Menge an geschriebenen und ungeschriebenen Vorschriften und zwar in der Form einer mehr oder weniger losen Sammlung, das ,,Recht" aber nicht. Es hat kein Dasein. Es muss erst zum ,,Gegenstand" konstruiert werden und ,ist" sodann als solches ein Abstraktum, ein Kunstgebilde. Erst dann kann man es als eine einheitliche, ganzheitliche Größe wissenschaftlich betrachten und behandeln. Erst dann kann die juristische Arbeit beginnen. Diese Vergegenständlichung des ,,Rechts" baut denknotwendig auf Grundvorstellungen, die den Gegenstand im Sinne Kants zu ,,schematisieren" vermögen, die aber logisch nicht im Recht zu finden sind. ,,Natur der Sache", ,,Pyramide", ,,Organismus" sowie neuerdings ,Netz" sind solche Urbilder des Rechts (1), grundlegende Rechtsanschauungen, die als Begriffe bzw. Metaphern der Orientierung, der Sinngebung und der Systematisierung im juristischen Material dienen. Jurisprudenz, meinte der junge Jhering, sei nicht nur ,,receptive“, sondern auch ,,productive" Wissenschaft. "lnterpretation der Gesetze“‘, schreibt er weiter „ist die absolut niedrigste Stufe aller wissenschaftlichen Thätigkeit", wenn auch sie ,,die nothwendige Vorstufe aller höheren" bildet. Die juristische (wissenschaftliche) ,,Production" geht über den Stoff hinaus, den die Jurisprudenz rezipiert. Die höhere Jurisprudenz spielt nicht auf der Ebene der Rechtsregeln, sondern auf der der Rechtsbegriffe, ,,und den Uebergang des Rechts aus dem niedern in den höhern Aggregatzustand vermittelt die juristische Construction, indem sie den gegebenen Rohstoff zu Begriffen verflüchtigt" (2). Diese Aussagen sind zwar Ausdruck einer spezifischen Auffassung der Rechtswissenschaft, der sogenannten Begriffsjurisprudenz. Darüber hinaus behaupten sie auch abgesehen von ihrer theoretischen Veranlassung eine allgemeine Notwendigkeit, womit jede Wissenschaft des Rechts konfrontiert ist, und zwar jene Notwendigkeit, die sie zwingt, ihren Gegenstand über den gegebenen Stoff hinaus zu konstruieren. Dieser juristischen Konstruktion dient vor allem die Definition des Begriffs des Rechts selbst. Ein solcher Begriff sowie alle Grundbegriffe der Rechtswissenschaft und des Rechts sind auf irgendeine Art wissenschaftliche Konstruktionen. ln der Regel werden entsprechende Begriffe durch Metaphern  in einer Weise unterstützt und ergänzt, dass eine strikte Abgrenzung zwischen dem Begrifflichen und dem Metaphorischen kaum möglich ist (3). Darin liegt im Kern, was ich als ,,juristisches Denken" in  dem Buch Une histoire de la pensée juridique en Allemagne (1800-1918) betrachte(4). Dieses ,,Denken" ruht weniger auf Beschreibungen des ,,wirklichen Rechts" als auf Vorstellungen desselben. Selbst unsere Grundbegriffe sind solche Vorstellungen. Um diese unerlässlichen Vorstellungen zu produzieren, muss nicht bloß die ,,Phantasie im Rechte" im Sinne Dernburgs (5), wohl aber die Einbildungskraft im Sinne Kants mobilisiert werden. Das führt nicht ins lrrationale, sondern legt auf die eigene Leistung der Rechtswissenschaft zur Bildung des Rechtsbegriffs und des Rechtssystems den adäquaten Wert. Um diese Grundvorstellungen zu gewinnen, verwerten die Juristen insbesondere das verfügbare philosophische Material wieder. Die Majestät der deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert durfte und musste das Denken der Juristen bewegen. Das war auch der Fall: Der Rhythmus des Rechtsdenkens folgte grundsätzlich dem der Philosophie. Gleichzeitig setzen sich die Juristen aber mit rein juristischen Problemen auseinander, seien es praktische oder auch rechtstheoretische. Z. B. muss sich die Staatsrechtswissenschaft das öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis vorstellen, was nicht ohne eine gewisse Komplexität geht, eine Komplexität, die die Philosophie nicht reduzieren oder gar lösen kann: Das Problem muss, wenn auch aufgrund expliziter oder unausgesprochener Philosopheme, auf juristischer Ebene gelöst werden. Deshalb entstehen zwischen der Philosophie der Juristen einerseits und ihrem rein juristischen Denken Spannungen, Spaltungen oder gar Widersprüche, die die Verwicklungen einer Geschichte des ,,Rechtsdenkens“ ausmachen.

Das Buch sowie die folgenden Ausführungen untersuchen in einer fast kriminalistischen Methode solche Verwicklungen in der Geschichte des deutschen Rechtsdenkens im 19. Jahrhundert, präziser von Savigny bis Jellinek. Dabei handelt es sich nicht um ,,die" Geschichte des juristischen Denkens in Deutschland, sondern um eine Geschichte, die selektiv verfährt und sich durch solche Verwicklungen führen lässt. lnsbesondere wird Wert auf die Geschichte des Begriffs des (subjektiven) Rechts gelegt. Nach einer kurzen Darstellung der idealistischen Landschaft der nachkantianischen Philosophie in Deutschland (2) wird die Vorstellung Savignys zur Grundlegung der Rechtswissenschaft dargelegt (3). Wenn auch Puchta grundsätzlich in den wissenschaftlichen Bahnen Savignys steht, und eine enge Verbindung zu Schelling hat, konstruiert er seinen Begriff des Rechts doch so, dass im Grunde das Erbe der kantischen Rechtslehre bei den Juristen weiterleben wird (4). Dieser Begriff hat nicht nur die Pandektistik sondern  auch die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildende Staatsrechtswissenschaft entscheidend geprägt: Er führte diese jedoch in eine Sackgasse, da aufgrund eines solchen Begriffs die zentrale Kategorie des öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses nicht richtig konstruierbar war (5). Der vom Neukantianismus beeinflusste Jellinek schlägt zu diesem Problem eine Lösung vor, die ihn allerdings zwingt, den kantischen Begriff des Rechts zu verabschieden (6).

2. Selbstbewusstsein, Organismus und Geschichte als grundlegende Denkobjekte des deutschen ldealismus:

Als Nicolaus Thaddäus Gönner 1808 versuchte, die neue juristische Schule als ,,geschichtlich“ zu disqualifizieren, beging er einen groben Fehler, den er selbst nicht bemerkte. Er setzte das Geschichtliche in einen krassen Gegensatz zum Philosophischen. Geschichtlich und philosophisch betrachtet war diese Geste 1808 aber eine verspätete. Die Geschichte war das Hauptthema der Philosophie, des nachkantischen ldealismus, wenn nicht bei Fichte, so jedoch bei Schelling und Hegel. Die von Voltaire 1765 veröffentlichte Philosophie de l’histoire par feu l’abbé Bazin war sozusagen das Zeichen zum Aufbruch in eine dauerhafte und heftige Diskussion um die Geschichtsphilosophie (6). Auch eine Philosophie der Geschichte war 1774 die Antwort Herders an Voltaire. Die Geschichtsphilosophie wurde zum Thema einer bahnbrechenden Kontroverse zwischen Herder und Kant. Der nachkantische Idealismus setzte das Problem einer Geschichtsphilosophie auf einen weiteren und tiefergründigen Boden als es bei Herder noch der Fall war - und zwar auf den Boden einer Bewusstseinsphilosophie. Rückblickend erklärte Schelling in seinen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie, wie seine ,,ersten Schritte" in der Philosophie eine deutliche ,,Tendenz zum Geschichtlichen" hätten, ,,wenigstens in der Form des sich selbst bewussten, zu sich selbst gekommenen Ich (11). Diese Neigung war also auf das Thema des Bewusstseins, präziser noch, des Selbstbewusstseins zurückzuführen. Eine Philosophie des Ichs ist hinfort ohne die Dimension des Zeitlichen und des Geschichtlichen wohl undenkbar geworden (8). In der Vorrede zu seinem System des transcendentalen ldealismus von 1800 hatte er die Philosophie selbst als die ,,Geschichte des Selbstbewusstseins“ gedeutet (9). Die These hier lautet: Ein wichtiger Teil des neuen Historismus, der am Anfang des I9. Jahrhunderts die deutsche Intelligenz so deutlich prägt, hängt mit der Vertiefung zusammen, die die Philosophie des Bewusstseins im nachkantischen Idealismus erfahren hat. Aus einer Vorstellung der Geschichte als objektiv-geistiger Prozess entsteht ein neues, bedeutungsvolles historisches Bewusstsein. Drei Aspekte dieser Bewusstseinsphilosophie müssen hier kurz herausgehoben werden. Zum einen ist das Bewusstsein bei Fichte, Schelling oder Hegel nicht als passive Größe, als einfaches Sub-jectum, sondern als Tätigkeit gedacht. Das Bewusstsein wird nicht als ein Vorgegebenes, sondern vielmehr als ein Prozess aufgefasst; es ist keine Statik, sondern ein zeitlicher Vorgang. Zeit ist Dimension des Bewusstseins. In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zieht Schiller aus der kantischen transzendentalen Ästhetik die für das neue Geschichtsdenken entscheidende Lehre: ,,Wir sind (. . .) nicht mehr in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns mit ihrer ganzen nie endenden Reihe" (10). Zum anderen stellt das im deutschen ldealismus zentrale Thema des Selbstbewusstseins die herkömmlichen Kategorien des Subjekts und des Objekts in Frage. Das Subjekt-Sein heißt, sich seines Selbst bewusst zu sein. Selbstbewusstsein ist also Wesen der Subjektivität. Es ist aber auch zugleich die Tätigkeit eines ,,beständigen sich-selbst-Objekt-Werdens des Subjektiven“ (11). Als ,,Erstes" im System des transzendentalen ldealismus muss ,,ein Selbstbewußtseyn“ gesetzt werden, das ,,von sich selbst die Ursache und die Wirkung - Subjekt und Objekt - ist“(12).  Die Reflexion um das Selbstbewusstsein war schon bei Leibniz und Kant vorbereitet. Durch Fichte erst radikalisiert wurde sie zur philosophischen Bruchstelle zwischen der Aufklärung und dem nachkantischen ldealismus eben deswegen, weil die alte Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt damit ,,aufgehoben" schien. Von dieser alten Ordnung der Welt wurde Abschied genommen. ,,Das Selbstbewußtseyn ist der lichte Punkt im ganzen System des Wissens", erklärte der junge Schelling" (13). Mit der ,,Aufhebung" der überlieferten Trennung von Subjekt und Objekt waren auch die Trennungen von Ursache und Wirkung, von Form und Materie, von Denken und Sein als überwunden betrachtet (14). Während die Aufgabe der transzendentalen Philosophie ist, ,,das Reelle dem ldeellen unterzuordnen", besteht die der Naturphilosophie umgekehrt darin, das ldeelle aus dem Reellen zu erklären (15) Ein solcher Abschied vom ,,Trennungsdenken“` zugunsten eines ,,Vereinigungsdenkens" war der gemeinsame Bestand des nachkantischen ldealismus und der Frühromantik, die, wie bekannt, in Jena um l800 zusammentrafen und sich gegenseitig befruchteten(16). Darüber hinaus kann man das damals im deutschen Denken so prägend werdende Thema der Bildung mit dieser Einnistung der spekulativen Denkfigur des Selbstbewusstseins in Verbindung setzen: Das Sich-selbst-Produzieren wird normativ als ein Sich-selbst-Bilden verstanden und Geschichte schreiben wird in diesem Zusammenhang nicht ohne Beziehung zum Bildungsroman sein. Das Thema des ,,Selbstdenkens" -bei Schleiermacher z. B. so wichtig  - muss auch vor dem Hintergrund der Selbstbewusstseinsfigur ausgelegt werden.

ln diesem Zusammenhang wird nun der Begriff des ,,Organismus" zum intellektuellen Werkzeug einer solchen übergreifenden Überwindung der aufklärerischen, trennenden Denkweise und damit zum Instrument der Spekulation überhaupt. lm Organismus schaut die idealistische Spekulation die Vorstellung einer Ganzheit an, worin alle Widersprüche aufgehoben sind und die Linearkausalität hinter der ldee der Kreisförmigkeit und einer allgemeinen Reziprozitat zurücktritt (17). Dieser Begriff darf hier nicht als eine biologische Größe verstanden werden. Laut Schelling ist ein Organismus der unmittelbare Ausdruck der Vernunft im Stoff (18). Wenn ,,die Natur (. . .) der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein" soll (19), dann ist ein Organismus zugleich als natürlicher Geist und geistige Natur zu verstehen. Daraus entsteht die Weltanschauung eines Ineinandergreifens von Organismen in einem vereinigten Gesamtorganismus, was bei Schelling der ,,Weltorganismus" heißt (20). Mit diesem Begriff bzw. dieser Metapher verfügen der nachkantische ldealismus und die Romantik über ein äußerst fruchtbares Denkschema. ln der Gestalt des Organismus denkt man vor allem die innere Einheit eines Ganzheitlichen mit dem Zeitlichen: Ein Organismus ist ein sich selbst entwickelndes System. Wichtig ist hier zu sehen, dass im Zeichen eines so konzipierten organischen Denkens Zeit und System sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil sich nur miteinander denken lassen. Das Schema des Organismus hat für die Spekulation noch weitere wichtige Vorteile. Es verbildlicht die ldee der Reziprozität zwischen allen Teilen eines Ganzen sowie zwischen einem Ganzen und seiner aus weiteren Organismen zusammengesetzten Umwelt. Die Kategorie des Verhältnisses ist dabei entscheidend. Wer versucht, einen Organismus zu verstehen bzw. zu erklären, darf sich nicht damit begnügen, die äußere Form des Ganzen zu beschreiben. Man muss die inneren Kräfte und ihre Verhältnisse fassen, also die innere Form, das System als solches und seine Dynamik. Dafür reicht aber der analytische Verstand nicht: nur die intuitio ,die Anschauung ist im Stande, die innere Form eines Organismus, ein solches System zu fassen und zu begreifen (21). Nur eine Anschauung kann einen Organismus durchschauen. Was angeschaut und durchgeschaut sein soll, ist allerdings nichts Sinnliches, sondern etwas Geistiges. Die Frage der intellektuellen Anschauung wird also zum brennenden Punkt der philosophischen Diskussion: Das kantische Verbot hinsichtlich der intellektuellen Anschauung wurde durch Fichte und Schelling übertreten (22). Die äußere Form eines Organismus wird als die Äußerung einer inneren Tätigkeit verstanden, und diese Tätigkeit als die Leistung eines Geistes bzw. Bewusstseins angesehen: einen Organismus verstehen heißt, hinein zu gehen, die innere Form und Dynamik zu erfassen, was nur durch intellektuelle Anschauung möglich ist.

Das neue Wissen geht also davon aus, alle Erscheinungen, die in denselben organischen Zusammenhang gebracht werden können, als die Äußerungen eines einheitlichen Geistes oder Bewusstseins, eines Subjekts zu betrachten. Zwischen Herder und Schelling, aber auch zwischen Hegel und der Romantik, hinter den Spaltungen und Gegensätzen, vollzieht sich in der deutschen intellektuellen Welt was Charles Taylor eine ,,expressivistische Wendung" genannt hat. Der idealistische Historismus geht daraus hervor. Geschichte wird Geistesgeschichte und es geht darum, die äußerlichen Produktionen dieses Geistes empathisch geistig durch eine ,,lebendige Anschauung“ zu verstehen. So wird eine neue Geschichtswissenschaft gegründet. Erstens muss man das Urteil Kants revidieren können, wonach Historie nur cognitio ex datis und nie cognitio ex principiis sein kann und als Wissen keinen Anspruch auf den Rang einer Wissenschaft erheben darf. Zweitens muss man mit den Prinzipien und Methoden der ersten Geschichtswissenschaft etwa Göttinger pragmatischer Art einen tiefgehenden Bruch vollziehen. Bei der Göttinger Schule wurde die Geschichtsschreibung in dem Sinne ,,verwissenschaftlicht", dass die Kategorie der Kausalität auf die Folge der geschichtliche Ereignisse und Erscheinungen angewandt wurde. Damit bleibt man aber bei den äußeren Verhältnissen zwischen den Phänomenen und schreibt eine äußere Geschichte, ohne ins Innere bis zu dieser geistigen, produktiven Schicht vorzudringen. Erst eine  innere Geschichte, verstanden als Geistesgeschichte, kann die organische Verbindung der Erscheinungen erfassen und herausstellen, und so zugleich den Anforderungen des idealistischen Wissenschaftsbegriffs gewachsen sein und die für eine ,,wissenschaftliche" Erfassung seiner Gegenstande unerlässliche Systematisierung durch die Zurückführung der Phänomenen auf ihre ,,organische“‘ Dimension leisten.

Diese Geschichtsvorstellung wirkt aber noch weiter. Nach der von Schelling in seinen berühmten Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums 1802 erklärten Auffassung müssen alle Wissenschaften, auch die Naturwissenschaften geschichtlich sein. Die Philologie wird zur vorbildlichen Wissenschaft erhoben: ,,Die Erde ist ein Buch, das aus Bruchstücken und Rhapsodien sehr verschiedener Zeiten zusammengesetzt ist. Jedes Mineral ist ein wahres philologisches Problem. In der Geologie wird der Wolf noch erwartet, der die Erde ebenso wie den Homer zerlegt und ihre Zusammensetzung zeigt" (23). Mit Friedrich August Wolf erfährt die Philologie eben damals eine radikale Erneuerung. ln seiner epochemachenden Programmschrift stellt Wolf 1807 die Bedingungen dar, durch welche der Boden der alten Philologie zu verlassen und die Gründung einer authentischen ,,Alterthums-Wissenschaft" als eine ,,wohlgeordnete philosophisch-historische Wissenschaft" möglich ist (24). Sache des Philologen nach der erneuerten Auffassung - eines Philologen, der ,,mit dem Künstler und Philosophen auf den höchsten Stufen" steht oder vielmehr in welchem beide sich ,,durchdringen" - erläuterte Schelling 1802 als ,,die historische Konstruktion der Werke der Kunst und Wissenschaft, deren Geschichte er in lebendiger Anschauung zu begreifen und darzustellen hat" (25). In diesem Sinne ist die Philologie keine trockene Gelehrsamkeit, sondern das geistige Bestreben, den Bildungsprozess der sich durch Kunst und Wissenschaft selbst bildenden Menschheit zu rekonstruieren und so zu verstehen.

3. Zum ,,Denken" Savignys:

,,Die Aufgabe aller geschichtlichen Arbeiten“, schreibt Savigny 1822, ,,geht  dahin, vergangene Zustände in vollständiger, lebendiger Anschauung zu vergegenwärtigen" (26). Eine solche Erläuterung der Aufgabe der Geschichtswissenschaft findet ihren Ursprung ganz offensichtlich in der geistigen Strömung der Zeit. Joachim Rückert hat m. E. zu Recht die geschichtliche Rechtswissenschaft Savignys als einen ,,objektiven ldealismus" definiert: ,,Ein Allgemeines, Absolutes o. ä. waltet im konkreten Wirklichen“ (27). ,,Nach der Methode, die ich für die rechte halte", schreibt Savigny, ,,wird in dem Mannichfaltigen, welches die Geschichte darbietet, die höhere Einheit aufgesucht, das Lebensprinzip, woraus diese einzelnen Erscheinungen zu erklären sind, und so das materiell Gegebene immer mehr vergeistigt“(28). Geschichtlich denken heißt also nicht empirisch denken, und bedeutet nicht, die Dinge bloß zu beschreiben. Empirische Geschichtsschreibung liefert höchstens „eine moralisch-politische Beyspiel-Sammlung“, das Gegenbild also jeder wissenschaftlichen Arbeit am Geschichtlichen nach Savigny (29). Geschichtlich denken heißt hier das materiell Gegebene in seiner Entwicklung auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen, das nur geistiger Natur sein kann, und von da her dieses Gegebene empathisch zu verstehen.

Neuerdings hat Hans Peter Haferkamp die tiefe Verbindung Puchtas mit dem Denken Schellings genau untersucht. Der Deutungsversuch, den ich in der Histoire de la pensée juridique en Allemagne die geschichtliche Schule betreffend unternommen habe, geht von dieser Erkenntnis aus und macht sich zur Aufgabe, einige Grundaussagen und Denkfiguren Savignys und Puchtas im Kontext der oben kurz geschilderten Bewusstseinsphilosophie des nachkantischen Idealismus und seines ,,organischen" Denkens zu analysieren und zu begreifen, um sozusagen eine ,,lebendige Anschauung" der geistigen Leistung dieser historischen Rechtsschule zu gewinnen. Dabei geht es nicht darum, der geschichtlichen Rechtsschule ein bestimmtes philosophisches System zuzuweisen, sondern vielmehr zu verstehen, wie sie philosophisches Material und philosophische Werte wiederverwendet, die in dieser Zeit im Kreis des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik in Umlauf gebracht wurden, und wie sie damit das Recht als wissenschaftlichen Gegenstand konstruiert hat. Es geht darum, zu zeigen, wie die geschichtliche Rechtsschule aus einer damals sich stark bewegenden epistémè etwa im Sinne Michel Foucaults hervorgegangen ist. Es können hier nur kurz einige Beispiele angedeutet sowie der Ausgangspunkt dieser Deutung im Vorfeld präzisiert werden.

(...)

(Auszug aus Jouanjan, Olivier: Philosophische Verwicklungen in der Rechtswissenschaft: zur Geschichte des deutschen juristischen Denkens im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (ZRG). 125. Band. Germanistische Abteilung. Hrsg. von R. Knütel, G. Thür, G. Köbler, P. Oestmann, J. Rückert, H.-J. Becker, H. DE Wall, A. Thier; Wien et al: Böhlau Verlag 2008, S. 367-376)

 

Böhlau Verlag

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